In der Kolumne „Meine ReiseZutaten“ philosophieren wir über Gott und die Reisewelt. Welche guten Zutaten braucht eine Reise? Was versalzt uns gerne mal die Reise-Suppe? Und wann denken wir: „Wer bitteschön hat denn DAS bestellt?“ In Folge 15 dreht sich alles ums Zugfahren.
Meine ReiseZutaten (15): Zugfahren
Gibt’s eigentlich noch Interrail? Das europäische Projekt mit dem inoffiziellen Untertitel „Masochismus auf Rädern“. Gestapelte Batikhosenträger, die sich seit Tagen mangels Möglichkeiten nicht mehr gewaschen haben und jede noch so gut funktionierende Lüftung zur Kapitulation zwingen.
(Meist) junge Menschen, die um ihren Rucksack gewickelt ganze Nächte vor den Zugtoiletten kauern. Weil all die anderen Plätze auf den Sitzen, in den Gängen und Gepäcknetzen schon lange besetzt sind.
Wildcamping auf den Bahnhöfen, bis dass die Security uns scheidet. 4 Woche zwischen Achselschweiß, Tütensuppen und chronischer Übermüdung.
Verzeihung, aber war nicht gerade das Reisen dazu gedacht, dass es auch ein bisschen Spaß machen darf? Oder geht es eigentlich darum, sich in der freien Zeit vom Luxus des westlichen Alltags mental freizukaufen?
Wenn einen schon die Kirche nicht mehr zu Buße und Ablasshandlungen zwingt, muss das der moderne Mensch dann durch Interrail kompensieren?
Ja, stimmt, ich darf gar nicht mitreden. Ich habe mir die vierwöchige Ochsentour noch nie angetan. Mir reichen meine Erfahrungen in Nachtzügen ohne reservierte Schlafplätze, meine Beobachtungen auf europäischen Hauptstadt-Bahnhöfen, meine Gespräche mit Interrailern und mein gut funktionierendes Riechorgan.
Nichts gegen die Theorie: die pure Freiheit, ein- und aussteigen, wo man will – ob in Südfrankreich, Katalonien, Portugal, Schottland oder Norwegen. Inspirierende (den Kalauer mit der Ergänzung „und transpirierende“ spare ich mir an der Stelle) Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen verschiedener Nationalitäten. Neue Eindrücke ohne Ende, romantische Nächte im Schlafsack unter südlichem Himmel, ein nicht enden wollendes Abenteuer auf Schienen.
Die Praxis (zumindest in früheren Jahren): wie oben beschrieben. Oder schlimmer.
Wer in einem bestimmten Zeitraum viel herumkommen will, flexible Ortswechsel mag und zugleich auch entspannenden Momenten und einem Quantum guter Luft nicht abgeneigt ist, darf nicht den Zug als Verkehrsmittel wählen. Punkt.
Nur dass hier kein Missverständnis entsteht: Züge sind im Verkehrsmittel-Mix ein überragendes Fortbewegungsmittel, wenn man sie taktisch geschickt einzusetzen weiß.
Konkret heißt das (vor allem in der Urlaubszeit): nur EINE fest definierte und vorher festgelegte Strecke, reservierte Plätze – und Tickets für die 1. Klasse.
Ja, bewerft mich mit Kapitalismuskritik und beschimpft mich für meinen Hang zur Dekadenz. Ist mir egal. Wer in der Ferienzeit eine längere Fahrt in der 2. Klasse antritt, hat in seinem Leben noch nicht genug gelitten.
Für alle Sparfüchse, Preisjammerer und andere Schwaben: Das ist gar nicht teuer. Wenn man sich ein bisschen geschickt anstellt. München – Rügen hin und zurück 79 Euro. Ulm – Marseille hin und zurück 79 Euro. Ja, wir reden von 1. Klasse Tickets in modernen Fernverkehrszügen.
Als Gegenleistung gibt es bequeme Sitze, Bein- und Armfreiheit, Zeitungen und Getränkeservice am Platz, keine Passagiere, die ohne reservierte Tickets noch in den Zweite-Klasse-Großraumwagen gestapelt werden, genug Luft zum Atmen.
Und das Wichtigste: Das Gefühl bei der Ankunft, sich nicht die nächsten zwei Tage von der Fahrt erholen zu müssen. Sondern es geht entspannt und voller Vorfreude heraus aus dem Zug. Bereit für alle Urlaubs-Schandtaten.
Ist auch eine super Übung in Sachen Minimalismus. Vorbei die Zeiten, in denen ein Tag lang der halbe Hausstand in den Familienwagen gestopft wurde. Dann noch flugs die Dachbox gefüllt mit noch mehr unnötigem Kram, den eh keiner im Urlaub braucht. Wer mit dem Zug verreist, hat – je nach Vorliebe – einen Koffer und einen kleinen Rucksack oder nur einen großen Rucksack. Das reicht.
Doch wie bekommt man einen überzeugten Autobesitzer in einen Zug? Die Aussichten, Uli Hoeneß zum Borussia-Dortmund-Fan zu machen, stehen ähnlich gut. So stehen die deutschen Wägen Jahr für Jahr weiter brav im samstäglichen An- und Abreisestau. Irgendeiner muss die Story des „Masochismus auf Rädern“ ja fortschreiben. Dann eben auf der Autobahn.
Photo: Josh Nezon