Norwegen, Preikestölen

Norwegen: Wo das Leben unter freiem Himmel auf dem Stundenplan steht

Wie viele Synonyme gibt es für atemberaubend und überwältigend? Für jeden, der irgendwann einmal über Norwegen und seine Landschaften geschrieben hat, auf alle Fälle zu wenig. Wie soll man auch all das in Worte fassen, wenn sich die Augen schon schwer tun, die gesamte Pracht der Naturschönheiten auf einmal aufzunehmen?

Wer überschwänglich über Norwegen berichtet, der ist weder sinnes- noch sonst irgendwie trunken, geschweige denn, dass er vom dortigen Tourismusminister bestochen worden wäre. Derjenige beschreibt einfach ein unfassbar bezauberndes Land, das einen mit allen Sinnen packt. Die Norweger sind überzeugt davon, dass ihr Land das schönste der Erde sei. Wer möchte dem widersprechen?

Hafen Lofoten
Norwegen, das Paradies für Outdoorfreunde mit Landschaften, die einen staunen lassen.

Dank seiner Erdölindustrie gilt Norwegen als reichstes Land Europas und zählt zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Das Interessante dabei: Der eigentliche Reichtum der Nordskandinavier zeigt sich nicht durch glitzernde Mega-Citys (auch wenn Oslo natürlich immer einen Besuch wert ist), sondern etwas, wofür es gar keines Geldes bedarf. Die Natur. Norwegen ist ein Paradies für Outdoorfreunde, bietet Landschaften, die einen den Mund vor Staunen offen stehen lassen, zieht einen mit der Unberührtheit und Stille vieler Ecken in seinen Bann, mit dem ewigen Spiel zwischen Bergen und Meer – in Norwegen kein entweder-oder, sondern ein klares UND.

 

Friluftsliv – eine Lebenseinstellung und Philosophie

Natur, Natur und noch einmal Natur. Das Leben der Norweger spielt sich draußen ab. Klingt paradox, wenn 75 Prozent der knapp 5 Millionen Einwohner in größeren Städten leben? Nur auf den ersten Blick. Jede freie Minute, die ein norwegischer Arbeitnehmer nicht in seinem Büro verbringt, gehört der Natur. Mehr als die Hälfte alle Einwohner besitzt eine Hütte – erstes Anlaufziel an den Wochenenden und oft auch für die gesamten Ferien. Die Norweger lieben und zelebrieren das Leben draußen.

Noch zu gut sind die Bilder von der nordischen Ski-WM 2011 in Erinnerung, als zehntausende Norweger teils schon Tage vorher an der Strecke des 50-km-Wettbewerbs der Männer am Holmenkollen campierten, auf Lagerfeuern grillten und feierten – im März wohlgemerkt.

Mitternachtssonne nördlich des Polarkreises
Mitternachtssonne nördlich des Polarkreises – ein guter Grund für eine Norwegen-Reise.

Draußen zu sein ist für Norweger nicht ein lästiges Übel, sondern eine Lebenseinstellung und Philosophie, die sogar einen eigenen Namen hat: Friluftsliv. Das bedeutet so viel wie „Leben unter freiem Himmel“. Sich in der Natur zu bewegen oder dort zu verweilen, auszuruhen und zu genießen und die Naturphänomene hautnah zu erleben, ist Teil dieses Lebensstils, der fest in der Bevölkerung verankert. Das Motto zieht sich durch die Bereiche Bildung, Gesundheit und Freizeit. Überzeugten Umweltschutz inklusive. Dass es in Norwegen keine Atomkraftwerke gibt, sondern sämtlicher Energiebedarf aus Wasserkraft gedeckt wird, passt nur allzu gut ins Bild.

Wer nur in Städte reist, verpasst in Norwegen das Beste

Wer nach Norwegen reist, um sich nur ein paar (zugegebenermaßen bezaubernde) Städte wie Oslo, Bergen oder Stavanger anzusehen, verpasst definitiv das Beste. Das nämlich, was viele Reisenden im Herzen rührt, sie manchmal aufgrund der gewaltigen Eindrücke erschaudern lässt und ihnen ein Gefühl gibt, dass es sich so verdammt richtig anfühlt, dort zu sein.

Dort, wo die Kunstwerke nicht an der Wand hängen, sondern jedesmal zu sehen sind, wenn man nur aus dem Fenster seiner Fischerhütte sieht oder den Reißverschluss des Zelteingangs nach unten zieht.

Ein paar Beispiele gefällig? An erster Stelle natürlich die Fjorde, also Meeresarme, die sich teilweise bis tief ins Landesinnere schieben, gewaltige Gletscherzungen, schroff abfallende Berge, deren Pässe manchmal noch bis in den Sommer schneebedeckt sind, tosende Wasserfälle, Lachsflüsse, verträumte Bergdörfer, karge Schären, weiße Sandstrände, türkisfarbenes Meerwasser, gewaltige Gletscherzungen, rote Fischerhütten (Rorbuer) – oder kurz gesagt: ein Märchenland für alle, die gar nicht genug von unberührter Natur bekommen können.

Und davon gibt es im Überfluss: Nur 3 bis 4 Prozent von Norwegens Fläche ist landwirtschaftlich nutzbar, 15 Prozent Nutzwald, der Rest – als über 80 Prozent – setzt sich zusammen aus Fels, Schotter, Gebirgswald, Mooren und Gletschern.

Weite Natur
Norwegen. ein Traum für alle, die von wunderbarer Natur gar nicht genug bekommen können.

Deshalb zieht es die Individualisten unter den Urlaubern magisch in den Norden. Die Abenteurer, die Outdoor-Freaks, die Wasserratten und nicht zu vergessen die Einfach-nur-Genießer. Oft nehmen sie lange Anreisen mit dem eigenen Wagen – je weiter man nach Norden kommt, desto höher wird die Wohnmobil- und VW-Bus-Dichte – auf sich, weil sie nicht einfach nur einfliegen wollen. Sie möchten das Land in all seiner Schönheit im wahrsten Sinn des Wortes erfahren.

Die ewigen Geschwindigkeitsbeschränkungen nerven

Ja, die ewigen Geschwindigkeitsbeschränkungen (und richtig teuren Strafen bei Verstößen) nerven. Aber was ist das schon gegen das Erlebnis einer Fahrt von Fjord zu Fjord über schwindelerregende Serpentinenstraßen, gegen die gigantischen Ausblicke auf Berge und Meer zugleich? Die einen dauernden und kaum in den Griff zu bekommenden Reflex auslösen: bei nächster Möglichkeit rechts ranfahren, aussteigen, Fotos schießen.

Es gibt keine Statistik, die besagt, wie viele Urlauber zu spät an ihrem Ziel angekommen sind, weil sie ihre Fahrt vor lauter Begeisterung über die unendlich vielen Motive so oft unterbrochen haben. Man darf von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer ausgehen.

Letztlich ist es auch vollkommen egal, wo man ankommt. Das Wichtigste ist schon da. Richtig, die grandiose Natur. Stellt sich nur noch die Frage, welche Aktivität zuerst ansteht: Bergwandern, Gletscherwandern, Kajakfahren, Angeln, Radfahren, Surfen im Sommer und Herbst oder Skifahren, Langlaufen, Schneeschuhwandern, Polarlichter bestaunen, Schlittenhundetouren, eine Nacht im Iglu verbringen (oder im Husky-Hotel) im Winter und Frühjahr.

Kitesurfen im türkis-blauen Wasser Ramberg
Kitesurfen im türkis-blauen Wasser: So herrlich kann die Arktis sein.

Die ideale Jahreszeit für einen Norwegen-Trip gibt es also nicht. Dort ist es – für manch einen überraschend – milder als in vergleichbaren Regionen, die so weit nördlich liegen. Schuld daran ist der Golfstrom, der dem Land bis hinauf zum Nordkap relativ milde Winter beschert. Die Sommer sind, vor allem im hohen Norden, vergleichsweise kühl. Aber selbst jenseits des Polarkreises sind bis zu 30 Grad möglich. Genauso kann es aber auch Ende Juni noch einen ordentlichen Batzen Neuschnee geben. Wer sich in der Arktis aufhält, muss auch ein bisschen Glück mit dem Wetter haben.

Einzig Spätherbst und Frühwinter gelten nicht gerade als Top-Reiseempfehlung. Diese Zeit mit jeder Menge Sturm, Kälte und – je nach Gegend – teils wochenlanger kompletter Dunkelheit ist nur etwas für Hartgesottene.

Ohne Haus und Heizung in der Arktis

Wer Norwegen einmal von seiner unwirtlichen Seite erlebt hat, bekommt großen Respekt vor den Menschen, die über Tausende von Jahren als Rentierzüchter den manchmal extremen Bedingungen getrotzt haben.

Geschätzt 60 000 bis 100 000 Samen leben noch in Norwegen. Bezaubernd die Farbpracht der traditionellen Gewänder. Faszinierend zu sehen, wie Menschen auch ohne Haus und Heizung und mit einfachsten Mitteln in der Arktis überleben konnten.

Es lohnt sich, in die Kultur der Ureinwohner einzutauchen. Zu erfahren, wie sie über all die Zeit im perfekten Einklang mit der Natur gelebt haben, bevor die Industrialisierung auch vor Norwegen nicht Halt machte und die Samen in ihren Rechten und Möglichkeiten deutlich einschränkte.

Lofoten – die Krönung eines großartigen Landes

Nun, da wir schon in Lappland angekommen sind, wird es Zeit, sich noch ausführlich den Lofoten zu widmen. Die Inselgruppe nördlich des Polarkreises mit ihren nur 24 000 Einwohnern stellt für viele Reisende die Krönung eines großartigen Landes dar. Die sich direkt im Norden anschließenden Vesterålen – bisher der Geheimtipp für alle, die es noch ein wenig ruhiger mögen – können in einem Atemzug genannt werden.

Norwegen. Lofoten, Meer und Berge
Bezaubernde Lofoten: Kurve um Kurve windet sich ums Meer und schmiegt sich an die Berge an.

Was für den Rest Norwegens gilt, trifft hier ganz besonders zu: Die Lofoten muss man sich verdienen. Wer hierher kommt, braucht Geduld – vor allem auf dem Landweg. Vier Stunden für 200 Kilometer? In unseren Breiten würden die Menschen die Krise bekommen. Auf den Lofoten ist die Entschleunigung Programm. Kurve um Kurve um Kurve windet sich die Straße am Wasser entlang und scheint sich immer an den jeweiligen Berg anzulehnen. Hohe Brücken und kilometerlange Tunnel, die sich steil abfallend und genauso steil wieder ansteigend unter dem Meer hindurchwinden. Endloses Staunen garantiert.

Eine Tour, bei der du nach jeder Kurve denkst: Diese Aussicht ist nicht mehr zu toppen. Und dann kommt die nächste Kurve …

Das Zusammenspiel der bis zu 1000 Meter hohen Berge und dem türkisblauen Meerwasser, gerade einmal durch wenige Meter Fläche und eine Straße getrennt, verschlägt einem unweigerlich die Sprache.

Kommt da gleich ein Troll aus dem Nebel?

Immer angenommen, der Nebel ist gerade nicht wie von Geisterhand aus den Bergen herabgefallen und hat eine mystische Geisterlandschaft gezaubert (und es einen in dem Moment nicht wundern würde, wenn hinter dem nächsten Strauch ein Troll hervorkäme). Gerade noch wärmender Sonnenschein, 10 Minuten später siehst du keine 20 Meter mehr weit: Auch das ist typisch für die Lofoten und macht ihren besonderen Reiz aus. Deshalb gilt: Zeit nehmen. Wer seinen Trip zu kurz plant, fährt womöglich mit großem Frust nach Hause, weil er die Schönheiten der Inselgruppe noch nicht einmal erahnen konnte.

Boote im Nebel auf den Lofoten
Wenn der Nebel wie von Geisterhand vom Berg herabfällt, kann man die Trolle fast schon spüren.

Umso gewaltiger dafür, wenn man zu den Glücklichen gehört, die dort Wärme und Mitternachtssonne zugleich erleben dürfen. 25 Grad in der Arktis, 24 Stunden Sonnenschein, Jungs, die nachts um 1 Uhr Fußball spielen, 70-jährige Damen, die sich um 22 Uhr für eine halbe Stunde Schwimmen im 12 Grad kalten Wasser treffen, keine Sekunde in der Nacht, in der du nicht jemand am Strand spazieren gehen siehst: Die Szenerie wirkt zugegebenermaßen für uns Westeuropäer, die wir den Wechsel von Tag und Nacht gewohnt sind, surreal. Der Biorhythmus ist komplett außer Kraft gesetzt. „Macht nichts“, sagen die Einheimischen und fügen hinzu: „Schlafen können wir wieder im Winter.“

Ein Exportschlager namens Stockfisch

So bleibt wenigstens immer genug Helligkeit für all die Aktivitäten, die sich einem auf den Lofoten förmlich aufdrängen: Während die einen die steilen Berge raufkraxeln und oft oben mit herausragender Aussicht übernachten, toben sich die anderen paddelnd auf dem Meer aus. Oder angelnd. Hier gibt es quasi eine Erfolgsgarantie in den überaus ergiebigen Fanggründen. Wer bei einer privaten oder organisierten Fischertour nichts fängt, kann nicht auf den Lofoten gewesen sein.

Gut für den Geldbeutel ist das noch dazu. Denn, und das ist nun wirklich kein Geheimnis: Die Lebensmittel in Norwegen sind schweineteuer. Bester Tipp für alle, die nicht ihre kompletten Vorräte schon im Wohnmobil dabeihaben, um kurzfristiges Hyperventilieren zu vermeiden: Im Supermarkt gar nicht erst zum Umrechnen anfangen. Zweitbester Tipp: Das kaufen, was es vor Ort zuhauf gibt und was auch die Einheimischem am liebsten essen: Fisch, Fisch und noch einmal Fisch. Der ist zumindest einigermaßen bezahlbar.

Rentiergeschnetzeltes für müde Wikinger

Der bekannteste Fisch der Lofoten wird aber hauptsächlich in Südeuropa verzehrt: Stockfisch heißt der absolute Exportschlager, der seit Jahrhunderten eine wichtige Wirtschaftsgrundlage der heimischen Fischer darstellt. An den stockartigen Gerüsten, die meterhoch und markant an der Küste entlang aufgebaut sind, wird der Kabeljau paarweise zusammengebunden und durch Trocknen an der kalten, salzhaltigen Luft konserviert. Mitte Juni wird er nach sechs bis acht Wochen Reifezeit abgenommen. Und nur noch die riesigen Gestelle überall zeugen von den Massen an Fisch, die hier hingen.

Zwei weitere regionale Spezialitäten gibt es im Gegensatz zum Stockfisch auch vor Ort zur Genüge: Das Fleisch von Rentieren und Elchen. Bei einem Rentiergeschnetzelten mit Yoghurt-Knoblauch-Dip kommt auch ein ermüdeter Wikinger wieder zu Kräften. Und natürlich mit Kaffee. Der wird in Norwegen zu jeder Tages- und Nachtzeit getrunken.

rote Holzhäuser in der Abendsonne in Ramberg
Typisch Skandinavien: Wenn die roten Holzhäuser wie hier in Ramberg in der Abendsonne glänzen.

Am Ende einer Norwegenreise beschleicht einen das Gefühl: „Hier will ich nie wieder weg.“ Das Leben im Einklang mit der Natur fühlt sich so stimmig an, die Menschen überwältigen einen immer wieder mit ihrer Fröhlichkeit und Lebenslust. Trotz all der Schönheit ist das Land keineswegs touristisch überlaufen. Im Gegenteil: Die Zeit scheint an manchen Orten fast stehengeblieben zu sein.

Ach, und so versinkst du im Schwärmen für dieses großartige Land, bis dich Anfang August zurück in der Heimat eine E-Mail deines norwegischen Kajaklehrers erreicht, der mit dir zwei Monate zuvor noch durch den arktischen Sommer gepaddelt ist. Im Anhang ein Bild mit Neuschnee auf den Lofoten. Und du denkst: Alles zu seiner Zeit.

„Irgendwohin“ – der Reisezutaten-Podcast

Bildnachweis:
Titelbild: Unsplash.com
Restliche Fotos: Mischa Miltenberger