Kolumne: Wenn die Fantasie nur bis zur Großen Freiheit reicht

In der Kolumne „Meine ReiseZutaten“ philosophieren wir über Gott und die Reisewelt. Welche guten Zutaten braucht eine Reise? Was versalzt uns gerne mal die Reise-Suppe? Und wann denken wir: „Wer bitteschön hat denn DAS bestellt?“ In Folge 18 dreht sich alles um Städtereisen.

Meine ReiseZutaten (18): Städtereisen

Achtung, Achtung, der Schreiber dieser launigen Kolumnen wurde einer heimtückischen Gehirnwäsche unterzogen. Gerade mal vor einer Woche hat er an dieser Stelle behauptet, dass Städtereisen eine Zumutung sind, und heute preist er sie hier an? Was ist denn hier schief gelaufen?

Gar nichts. Okay, vielleicht plagt mich das schlechte Gewissen. Städte sind doch gar nicht so bäh. Und Städtetrips sowieso nicht.

Freitags im überfüllten ICE-Abteil zweiter Klasse vom Rheinland nach Hamburg. Die stickige Luft merkt eh keiner mehr. Die Damen lassen Prosecco-Fläschchen kreisen. Bei den Herren zischen die Bierdosen im Gleichtakt.

An der Elbe angekommen, gilt es den sorgsam vorgeglühten Zustand zu bewahren. Noch ein Getränk an der Hotelbar, dann ab auf die Reeperbahn. Mal richtig was erleben. Weiter als bis zur Großen Freiheit kommt die munter zechende Truppe mangels Insider-Kenntnissen und Fantasie nicht.

Nach dem großen Katerfrühstück am nächsten Morgen wackeln alle gen Landungsbrücken. Von dort immer der Meute hinterher in die Hafencity.

Wer an Wochenenden auf Städtereise ist, braucht keinen Reiseführer. Einfach immer da lang, wo alle laufen.

Der Mensch ist ein Herdentier. Ist das nicht herrlich?

Später der unvermeidliche Musical-Besuch, nochmal absacken auf der Reeperbahn (nur keine Experimente, wenn das Hotel schon so nah ist), am nächsten Morgen zum Fischmarkt. Und schon bewegt sich die kollektive alkoholische Dunstwolke wieder zum Bahnhof und sinkt auf der Rückfahrt in einen langen, traumlosen Schlaf.

Das war jetzt arg klischeehaft? Ich behaupte nach eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, dass zwischen 50 bis 80 Prozent aller Städtereisen genau nach diesem Muster ablaufen.

Quasi die Verlagerung des Wochenend-Besäufnisses an prominente Stelle. Ein bisschen Sightseeing inklusive.

Ach, ich wollte doch schreiben, dass Städtetrips gar nicht so bäh sind. Jetzt bin ich schon wieder auf verbalen Abwegen gelandet. Okay, noch ein Versuch.

Städtereisen sind richtig geil.

  • Für alle, die sich mit zittrigen Fingern trauen, den Reiseführer wegzupacken und einfach mal zu schauen, in welche spannende Ecken der Stadt es einen hintreibt. Die meisten Menschen sind bisher nämlich von Städtetrips wieder lebend zurückgekommen.
  • Für alle, die sich beim Essen nicht mit der erstbesten Abzocker-Bude mit langweiligem Saufraß an den ausgelatschten Pfaden zufrieden geben. Sondern die sich mit voller Freude ins Experimentieren stürzen, damit sie daheim in Castrop-Rauxel allen erzählen können, dass es nach der Currywurst Schranke tatsächlich noch neuere Food-Trends gibt.
  • Für alle, die von Straßenmusik bis Riesen-Graffitis jede Art von Kunst verehren und sich gar nicht sattsehen und -hören können.
  • Für alle, die unbedingt wissen wollen: Wie ticken die Menschen in dieser Stadt? Was sind ihre Themen? Ist der Hamburger wirklich so verschlossen? (Nein) Der Kölner so redselig? (Ja.) Der Allgäuer so verstockt? (Ja)

Genau genommen für alle, die echtes Interesse an neuen Orten, Menschen, Kulturen und Gepflogenheiten haben. Deren Fantasie übersprießt angesichts der unendlichen Möglichkeiten der Großstadt.

Die jubilierend all das aufsaugen, was sie an jeder neuen Ecke zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen bekommen. Die sich völlig berauscht von all den Eindrücken fragen, ob sie nicht auch mal bereit für das Wohnen in der pulsierenden Metropole wären – oder ob sie noch die nächsten Jahrzehnte weiter die hässlichen Gartenzwerge ihrer Nachbarn bewundern wollen.

Jetzt ist es also raus. Ich liebe Städtereisen. Und bin heilfroh, wenn ich nach spätestens drei Tagen wieder weg bin.

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