Jamaa el Fna in Marrakesch

Marrakesch – eine persönliche Geschichte von Flucht und Wiederkehr

Ich hole tief Luft. Es riecht nach Minze in Marrakesch. Der Duft strömt aus den kleinen Gläschen, die mit dem zuckersüßen Tee gefüllt sind. Am Stand neben mir liegen unzählige Bündel an frischer Nana-Minze. Die frühe Morgensonne linst noch vorsichtig über die hohen Mauern der Stadt. Ich höre das Feilschen der Händler, das gesellige Lachen der Männer beim Tee und den Gesang des Muezzin. Zusammen mit meinem Freund laufe ich durch die verwinkelten Gassen der Medina.

Marrakesch Souk
Kleine Gassen, unzählige Geschäfte: In der Altstadt von Marrakesch kann es unübersichtlich werden.

Vor zwei Stunden sind wir gelandet, seit mindestens 45 Minuten irren wir nun durch das Straßenlabyrinth der Altstadt auf der Suche nach einem günstigen Zimmer. Meine Laune fällt von anfänglicher Euphorie in ganz tiefe Stimmungslöcher. Wir haben natürlich nicht im Vorhinein gebucht, schließlich sind wir ja Backpacker. Frei, spontan und unabhängig.

Zugegeben, die Hostelsuche ist meistens der anstrengendste Teil des Backpacker-Daseins. Wir wissen allerdings, dass es eine kleine Straße gibt, in der sich so ziemlich alle Hostels Marrakeschs befinden sollen.

Auf dem Plan sah das alles noch relativ übersichtlich aus. Doch die Straßen sind schmal, verwinkelt und überfüllt. Von Straßennamen oder Schildern keine Spur.

Es ist früh am Morgen. Die Frauen gehen auf den Markt, um Gemüse und Fleisch für das Mittagessen einzukaufen, die Männer halten einen Plausch auf dem Weg zur Arbeit. Knatternd rasen die Mopeds an mir vorbei, so nah, dass sie mich mehrmals streifen.

Alles ist laut und hektisch und ich bin gestresst. Das wilde Treiben in den Souks von Marrakesch überfordert mich. Der Rucksack auf meinem Rücken scheint immer schwerer zu werden. Ich will raus aus dem Gewimmel, meine Sachen abstellen und einfach nur kurz durchschnaufen.

Im Labyrinth der Medina hoffnungslos verloren

Wir entscheiden uns, noch einmal zurück zum berühmten Djemaa El Fna, dem Hauptplatz der Stadt zu gehen, um uns einen Überblick zu verschaffen. Zurück auf Los sozusagen. Wir holen unseren Reiseführer heraus und schauen auf den Plan. In einer kleinen Gasse ganz in der Nähe müssten drei Hostels direkt nebeneinander sein.

Es wird langsam heiß und in den engen Straßen wird es staubig und stickig. Wir sind verzweifelt und sehen scheinbar auch so aus. Immer mehr junge Männer bleiben stehen und sagen: „Hotel! Come!“ Reflexartig schütteln wir den Kopf und lehnen dankend ab.

Schließlich lernt man das als Erstes in jedem Reiseführer: niemals mit Touristenschleppern mitgehen.

Die meist jungen Herren reden einem das ins Auge gefasste Hotel aus, weil es entweder gerade renoviert würde oder ausgebucht sei. Stattdessen bringen sie einen in eine viel bessere Alternative. Zumindest besser für den Touristenführer, denn dieser erhält eine Provision, die natürlich zu Lasten des ahnungslosen Touristen geht.

Marrakesch, Marokko, Hauptplatz Djemaa El Fna
Der Hauptplatz Djemaa El Fna steht stellvertretend für das Gewusel und geschäftige Treiben in Marrakesch.

Nachdem sich immer mehr Menschen, Zweiräder und Eselskarren an uns vorbeiquetschen, anrempeln und anquatschen, reicht es mir. Ich sage kurzerhand „Okay“ und wir lassen uns auf einen der Männer ein und folgen ihm. Drei Abbiegungen und keine zwei Minuten später stehen wir vor einer unscheinbaren Tür. „Hostel“, sagt er, öffnet die Tür und zeigt auf das kleine Schild neben dem Eingang.

Und tatsächlich: Auf dem Schild steht der Name des Hostels, das wir seit gefühlten Ewigkeiten gesucht haben. Wir hatten diesen kleinen Durchgang einfach nicht für eine Straße gehalten, sondern eher für eine Hofeinfahrt. Wir merken uns für die Zukunft: nicht von fehlenden Schildern oder unscheinbaren Gässchen irritieren lassen.

Unser Retter redet kurz mit dem Rezeptionisten und ist dann auch schon wieder verschwunden. Wir lassen uns ein zweckmäßiges, aber sauberes und vor allem günstiges Zimmer geben, werfen unsere Rucksäcke auf den Boden und atmen erst einmal ganz tief durch. Geschafft.

Marrakesch, Lederschuhe
Nichts, was es in Marrakesch nicht gibt. Hier eine großartige Auswahl bunter marokkanischer Lederschuhe.

Nach einer kurzen Verschnaufpause trauen wir uns wieder hinaus. Wir haben Hunger und allein bei der Erinnerung an die vielen Düfte knurrt mein Magen. Wir folgen den engen Gässchen innerhalb der Stadtmauern und tauchen ein in das Chaos der Souks.

Auf dem Markt, der sich in der Medina, teils auf den Straßen, teils überdacht in Markthallen, erstreckt, gibt es nichts, was es nicht gibt. Stoffe in leuchtend bunten Farben, Leder in allen Variationen, Kosmetik, Schmuck, Haushaltswaren, Werkstätten, Gemüse, Süßigkeiten, Fleisch und Fisch.

Wir folgen unseren Sinnen. Wir schnuppern an Ölen, an kleinen Fläschchen, die wir unter die Nase gehalten bekommen. Wir probieren uns durch die Essensstände: Oliven, Brot, kandierte Früchte.

Marrakesch Garküche
Ein Festival der Sinne: Die Garküchen Marrakeschs lassen keine Wünsche offen.

Plötzlich kommt ein Mann mit einem Bauchladen auf mich zu. Er redet auf mich ein, ich verstehe kein Wort, denn mein Französisch ist etwas eingerostet. Er zeigt mir Tuben und Dosen und ich verstehe, dass er Salben und Cremes verkauft. Kurzerhand greift er meinen Arm und schmiert mir eine nach Lavendel duftende Creme auf die Haut. Sie sei gut für die Haut und dufte sehr gut, verstehe ich. „Schöne Haut für schöne Frauen“.

Ich bedanke mich mit einem Lächeln und gehe weiter. Nach ein paar Minuten merke ich, dass die Stelle an meiner Haut zu jucken beginnt. Sie ist gerötet und kleine Pusteln sind zu erkennen. Ganz offensichtlich bin ich gegen die Schönheitscreme allergisch. Wunderbar.

Überall soll man kaufen, schauen, probieren

Wir gehen weiter und werden alle zwei Sekunden angeredet. Überall soll man schauen, kaufen, probieren. Es wird zusehends voller in den Gassen und schon wieder merke ich, dass mich die ganze Atmosphäre anstrengt. Mir fällt es schwer, mich treiben zu lassen. Statt dem neugierigen Erkunden dieser exotischen Kultur, fühle ich mich wie auf der Flucht.

Ich will mir nichts zeigen lassen, nicht reden und vor allem nichts kaufen. Und ich will ein guter Backpacker sein?

Wie wird es mir dann erst im geschäftigen Bangkok oder gar in Indien gehen? Ich will gar nicht daran denken.

Plötzlich verflucht auf dem Platz der Gehängten

Es wird langsam dunkel und in der Luft liegt der beißende Geruch von Rauch. Wir machen uns auf den Weg, um nach einem schönen Restaurant mit einer Dachterrasse zu suchen. Von oben, mit etwas Abstand, sieht die Welt doch meistens wieder besser aus. Uns fehlt wieder einmal der Orientierungssinn und plötzlich sind wird wieder am Djemaa El Fna. Der große Platz in der Altstadt war früher der Platz der Geköpften. Heute ist er die Hauptsehenswürdigkeit und noch immer ein Schauplatz für allerhand Kuriositäten.

Marrakesch Marokko Schlangenbeschwörung
Schlangenbeschwörer gehören zum typischen Bild von Marrakesch.

Schlangenbeschwörer, Geschichtenerzähler und Henna-Malerinnen scharen im Schein der Fackeln die Touristen um sich. Auch ich bin großer Henna-Fan und möchte mir noch schnell ein Andenken auf die Haut malen lassen. Ich blättere durch die Bilder der Frauen, die auf kleinen Plastikhockern sitzen und vorrangig die Hände kleiner Mädchen mit Blümchen verzieren.

„Was kostet ein Henna-Tattoo?“, frage ich und bekomme einen Preis von umgerechnet um die 10 Euro genannt. Ich suche mir ein Motiv aus und zeige der Malerin, wo ich es gerne hätte. „Aber dieses hier kostet 25 Euro, weil es größer ist“, erklärt sie, als sie bereits einige Striche auf der Haut gemalt hat. Ich protestiere, denn schließlich hatte ich ja vorher gefragt. Nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf 15 Euro.

Die Laune der Malerin hat sich deutlich verschlechtert, meine ebenfalls. Sie nimmt das Geld und kritzelt mies gelaunt ein paar Blümchen auf die Hand, die mit der Vorlage nichts gemein haben. Als ich aufstehe und gehe, ruft sie mir gestikulierend ein paar Worte hinterher. Auch ohne ein Wort zu verstehen weiß ich, dass es mit Sicherheit nichts Nettes war. Ich glaube, ich wurde verflucht.

Marrakesch – Eigenartige Mischung aus Tradition und Moderne

Wir schlendern, wenn man das in dieser Stimmung so nennen kann, weiter über den schummrigen Platz. Bei den Schlangenbeschwörern bleiben wir stehen und beobachten den Tanz der Tiere. Dazwischen rollt eines dieser bunt blinkenden, batteriebetriebene Spielzeuge zwischen meinen Füßen herum.Von irgendwoher dröhnt der Bass aus Läden mit allerlei Krimskrams. Eine eigenartige Mischung aus Tradition und Moderne.

Die riesige Rauchwolke, die den Platz vernebelt, kommt von großen Grills, die am Rand aufgereiht sind. Davor stehen Plastiktische und -stühle. Im Spalier aufgereiht warten Kellner mit den Speisekarten in den gängigen Sprachen der Touristen.

Souk Marrekesch
Manchmal möchte man in den Souks einfach ein Kätzchen sein, das sich schnell verstecken kann.

Wir nähern uns, um einem Blick auf die Karte zu erhaschen. Straßenessen soll ja bekanntlich gut sein. Doch kaum registrieren die Kellner, dass wir interessiert sind, laufen sie uns entgegen und drängen uns mit den Speisekarten in Richtung Tisch. Nur schauen gibt es hier nicht. Etwas überrumpelt sitzen wir auf einmal zwischen all den anderen Touristen am Tisch.

Also nichts mit Dachterrasse. Zitronenhähnchen aus der Tajne, dem Tontopf, der direkt ins Feuer gestellt wird, Fisch, Meeresfrüchte oder Lamm. Für Fleischesser scheint es hier das Paradies zu sein, auch wenn die Preise offensichtlich touristisch sind. Als Vegetarier hat man es zumindest leicht. Ich habe die Wahl zwischen Salat und Couscous und bestelle beides.

Das Zischen der Grills ist ohrenbetäubend. Der Rauch brennt langsam in meinen Augen und ich merke, wie müde ich bin. Nach dem Essen gehen wir so zielstrebig, wie es in den verwinkelten Gassen möglich ist, zurück ins Hotel.

Flucht nach Essouria

Am nächsten Morgen habe ich das Gefühl, aus einem tiefen Koma zu erwachen. Wir sind beide erschöpft und die Lust, sich noch einmal in das exotische Treiben der Stadt zu stürzen, geht gegen Null. Wir müssen hier raus. Kurzerhand suchen wir im Internet nach Möglichkeiten und entscheiden uns, noch am selben Tag mit dem Bus nach Essouria zu fahren.

Essouira Sonnenuntergang
Die Weite von Essouria ist der krasse Gegensatz zur Enge von Marrakesch.

Die Unterkunft buchen wir direkt. Das kleine Städtchen am Atlantik hat den Ruf eines entspannten Hippiedörfchens. Auf dem Weg zum Busbahnhof decken wir uns mit einem starken Mokka und ein paar dieser der klebrig-süßen Gebäckstücke ein. So sieht die Welt schon besser aus.

In einem modernen Bus mit Klimaanlage machen wir uns auf die dreistündige Reise gen Westen. Auf dem Weg sehen wir die Vielfältigkeit Marokkos: die mit Schnee bedeckten Gipfel des Atlasgebirges, die Plantagen mit den Arganbäumen, wo das teure Arganöl hergestellt wird, die sandigen Steppen und endlich auch das Meer.

Essouria, die Weiße, die Leichte. Wir finden unsere Unterkunft dieses Mal auf Anhieb. Wir steigen auf die Dachterrasse und sehen weiß gekalkte Häuser, blaue Fensterrahmen und den Hafen, über dem unzählige Vögel kreisen.

Essouira
Essouira: Weiß gekalkte Häuser, blaue Fensterrahmen, Sonne und Meer.

Die Medina ist von einer Stadtmauer umgeben, die die Stadt heute vor allem vor dem kräftigen Wind schützt, der hier ständig weht. Errichtet wurde die mächtige Festungsanlage von Portugiesen, dann fanden auch immer wieder Piraten dort Unterschlupf. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Mogador, wie der Essouira damals hieß, zu einem wichtigen Handelsplatz. Jüdische Kaufleute lebten friedlich mit den Arabern in der Medina.

Als wird durch die Medina laufen, hören wir den Klang von Trommeln. Es sind Gnaoua-Musiker, Nachfahren schwarzafrikanischer Sklaven, die mit ihren Rhythmen den Soundtrack der Stadt bestimmen. Ob wir Space-Cookies wollen, werden wir gefragt und lehnen etwas verwirrt ab.

Schon seit Jahrzehnten kommen Künstler, Musiker und Rastafaris nach Essouria. Wegen der Trommelmusik – aber auch wegen den Drogen, die hier ganz offen am Strand und in den Gassen angeboten werden. Was nicht bedeutet, dass der Konsum erlaubt wäre.

Ende der 1960er-Jahre kam auch Jimi Hendrix nach Essouira, nach ihm die Touristen. Was hier vom Spirit des Musikers geblieben ist? Ein Wandgemälde und die Hendrix-Bar, ein paar Kilometer strandabwärts. Stattdessen ist Bob Marley allgegenwärtig. Reggae-Bars, Marley-Shirts und Jamaika-Mützen gibt es an jeder Ecke.

Essouira Kamel
Warum nicht mal ein Ausritt auf einem Kamel? Auch das geht in Essouira.

Die Tage vergehen in Essouira wie im Flug. Wir buchen einen Ausritt am Strand, der im vollen Galopp etwas aufregender ausfällt als geplant. Wir besuchen den Hafen, an dem jeden Morgen der Fang des Tages verkauft wird, wir betrachten den Sonnenuntergang von den Festungsmauern. Essouira ist Entspannung pur. Das sieht man allein an den Katzen, die überall in der Stadt anzutreffen sind. Sie liegen auf Rollersitzen, in Karren und auch mitten auf der Straße. Hier gibt es alles außer Stress.

Zurück auf Los in Marrakesch

Als wir den Rückweg nach Marrakesch antreten, bin ich tiefenentspannt und gleichzeitig neugierig, ob uns das chaotische Marrakesch sofort wieder in die Knie zwingen wird.

Doch ich spüre, dass es dieses Mal anders sein wird. Wir haben bereits am Vortag ein Zimmer in einen Riad gebucht. Die Häuser mit den Innenhöfen sind typisch für Marrakesch und richtige Schmuckstücke. So auch unsere Unterkunft. Kaum hat man das Riad durch die unscheinbare Tür betreten, findet man sich in einer Oase wieder. Der Lärm der Straßen ist kaum hörbar, die Architektur beeindruckend, die Pflanzen blühen und verströmen einen angenehmen Duft.

Jardin Majorelle, das Paradies inmitten von Marrakesch

Am Nachmittag besuchen wir den Jardin Majorelle und tauchen ein in eine andere Welt. Der botanische Garten von Yves Saint Laurent wirkt wie das Paradies inmitten der staubigen Stadt. Es gibt sie, die ruhigen Orte in Marrakesch. Man muss sie nur finden. Für das Abendessen fragen wir uns durch zu einem Restaurant mit Dachterrasse. Von oben schauen wir herab auf den hektischen Verkehr und den Trubel. Beim Minztee sind wir uns einig: Marrakesch hat eine zweite Chance verdient.

Bildnachweis:
Titelbild: © Depositphotos.com/Matyas Rehak
Geschäfte Altstadt: © Depositphotos.com/Juan Aunion
Hauptplatz Djemaa El Fna: © Depositphotos.com/Ignasi Such Suarez
Marokkanische Lederschuhe: © Depositphotos.com/Lukasz Janyst
Garküchen: © Depositphotos.com/Christian Mueller
Schlangenbeschwörer: © Depositphotos.com/Fritz Hiersche
Restliche Fotos: Julia Schattauer