Florenz oder Viareggio? Siena oder Castiglione della Pescaia? Pisa oder Elba? Oder kurz gesagt: Weltbekannte Stadtkultur oder pures Strandvergnügen? Der deutsche Geschichts- oder Kunstlehrer entscheidet sich in der Regel für Variante 1 und klappert gemeinsam mit seiner Frau die historischen Stätten ab. Die gut situierte italienische Familie wählt lieber Nummer 2 und lässt sich – gerne auch mal für Wochen – an einem der herrlichen Badeorte nieder. Aber wer sagt überhaupt, dass die Frage des Urlaubsortes in der Toskana mit „entweder oder“ beantwortet werden muss? In einer Region, die so viele Schätze auf so kleinem Raum zu bieten hat, kann es im Idealfall nur heißen: Beides!
Zwischen Weinparadies und Cowboys im Sumpfland
Wobei selbst das schon wieder zu kurz gesprungen ist. Wer sich nur Kultur oder Meeresrauschen widmet, verpasst vielleicht das Weinparadies Chianti, die Marmor-Steinbrüche von Carrara, das Sumpfland der Maremma mit seinen Cowboys und die Schwefelthermen im Hinterland.
Gerade einmal 215 Kilometer erstreckt sich die Toskana von Nord nach Süd sowie 235 Kilometer von Ost nach West. Hat dabei aber so viel zu bieten, dass es locker für mehrere, längere Urlaube reicht, ohne auch nur einen Tag Langeweile. Die reichhaltigen Schätze der Region in Mittelitalien gegeneinander auszuspielen, wäre unfair. Am besten ist es, einfach alles mal zu probieren und das Gesamtpaket auf sich wirken zu lassen. Auch wenn dafür noch ein Reise nötig ist. Und noch eine. Und noch eine.
Denn das Hereinschmecken in die Toskana braucht seine Zeit. Wenn wir schon beim Thema sind: Der vielleicht wichtigste Grund für eine Reise in die zauberhafte Hügellandschaft ist bisher noch gar nicht aufgetaucht. Das Essen! Bäuerliche Küche, schnörkellos, einfach wunderbar! Ist es nicht auch ein Kunstwerk, wie aus regionalem, sonnenverwöhntem Gemüse und ein wenig Olivenöl die feinsten Mahlzeiten in Kürze zubereitet werden können?
Wer vermisst ernsthaft sein Kantinenschnitzel, wenn er eine frisch geröstete Scheibe Weißbrot bekommt, mit Knoblauch eingerieben und Tomatenstückchen belegt? Wohlgemerkt Tomaten, die ihre Bezeichnung noch verdient haben.
Fleischesser werden ein gut gemachtes Bistecca Fiorentina – ein auf Holzkohle gegrilltes Steak am Knochen vom heimischen Chianina-Rind – so schnell nicht vergessen. Genauso wenig wie ein zart gegartes Lamm oder Wildschweinragout. Suppen, Pasta, Fisch, Käse: Die Liste der kulinarischen Verführungen ließe sich noch lange fortsetzen. Ob Kutteln dazugehören, darüber gehen die Meinung stark auseinander. Fakt ist, dass die Trippa Fiorentina, also in Wein gekochte Kutteln, genauso zur Toskana gehören wie Knoblauch, Olivenöl und Wein. In der Hauptstadt Florenz werden diese sogar in speziellen Garküchen angeboten.
Florenz: Wiege der Renaissance und stinkende Roller
Apropos Florenz. Die Stadt mit ihren knapp 400 000 Einwohnern polarisiert. Eine Toskana-Reise ohne Aufenthalt in Florenz ist eigentlich nicht vorstellbar. Die Wiege der Renaissance, ein Ort, der überbordet vor lauter Berühmtheit seiner Geschichte, vor künstlerischem und architektonischem Erbe: Ponte Vecchio, Kathedrale Santa Maria del Fiore, Uffizien und der Palast der Medici stellen nur die Spitze des Eisbergs dar.
Aber eben auch ein Ort, der hoffnungslos überlaufen ist. Mit engen Gassen, in denen es nach den Abgasen der vorbeidröhnenden Roller stinkt. Mit stundenlangen Wartezeiten, um gewisse Kulturschätze anschauen zu können. So brüllend heiß im Sommer, dass man am liebsten auf der Stelle kehrtmachen würde. Ist es möglich, Florenz zu lieben, ohne es zugleich zu hassen?
Wer so einen klassischen Sommertag in Florenz erlebt hat, überlegt vielleicht, das nächste Mal zu einer anderen Reisezeit wieder herzukommen (wobei es bei über 4 Millionen Besuchern pro Jahr zugegebenermaßen nie richtig ruhig zugeht). Oder der spontane Entschluss lautet: hinaus aus der Stadt und ab ins hügelige Hinterland. Dort, wo sich das subtropische Klima noch am besten aushalten lässt (abgesehen von der Küste natürlich). Wo es wenigstens nachts Abkühlung gibt, weil eine leichte Brise weht.
Klarer Vorteil Toskana: Auf Kultur und Geschichte muss auch dort niemand verzichten. Herrliche kleine Etruskerstädte wie Saturnia, Sovana oder Sorano laden zum Herumschweifen ein. Zum Abkühlen geht es in eine der frei zugänglichen Schwefelwasser-Kaskaden oder Thermalbecken in der Nähe. Sehr gesund. Nur für die Nase ein zweifelhaftes Vergnügen – vor allem, wenn nicht direkt ein Dusche in der Nähe ist. So bleibt der Badespaß nachhaltig in Erinnerung, wenn Badeklamotten und Handtücher selbst nach dem Waschen noch nach faulen Eiern riechen.
Zeit der Weinlese gibt der Toskana den besonderen Anstrich
Doch zurück zur Frage, wann denn nun die beste Reisezeit ist. Das hängt entscheidend davon ab, was Menschenmassen mit einem auslösen. Fakt ist: Die Toskana wartet mit so vielen wunderschönen Gründen für einen Besuch auf, dass viele Ecken während der Sommermonate geradezu überrannt werden, seien es die weltberühmten Städte oder die Strände der Versilia. Wer unbedingt in dieser Zeit unterwegs sein will oder muss, findet auf dem Land oder an den wilden Stränden des Maremma-Naturparks noch das ein oder andere ruhige Plätzchen.
Ansonsten einfach auf das Frühjahr oder den (Spät-)Herbst ausweichen. Natur- und Kulturfreunde kommen dann voll auf ihre Kosten – auch, was das Preisniveau für die Unterkünfte anbetrifft. Die Zeit der Weinlese bis zur Olivenernte (September bis Mitte November) gibt der Toskana sowieso einen ganz besonderen Anstrich. Zum einen der Farben wegen, zum anderen wegen der betriebsamen Geschäftigkeit aller Orten, bis die Schätze der Natur alle eingesammelt sind.
Im Übrigen auch eine wunderbare Zeit, um die so herrlich geschwungene Landschaft in Ruhe näher kennenzulernen. Bis man von einem Ort zum nächsten gelangt ist, dauert es. Die Toskana besteht zu 70 Prozent aus Hügeln und zu 20 Prozent aus Bergen. Viele Steigungen und und noch viel mehr Kurven sind der natürliche Feind der Raserei. Zumindest bei den Urlaubern.
Wer sich aber allzu viel Zeit nimmt und vor lauter Panorama-Staunen gar nicht mehr aufs Gaspedal drückt, wird recht schnell die Ungeduld des heimischen Autofahrers hinter sich bemerken. Nach dem altbewährten Lebensprinzip „Sempre avanti“ (immer schön nach vorne schauen) kümmert der sich nicht viel um ein Überholverbot oder die Geschwindigkeitsbeschränkung.
Er gehört ja auch zu den 3,6 Millionen Bewohnern der Toskana, ist also dort nicht im Urlaub und verständlicherweise ab und an genervt, wenn er wegen der vielen Touristen für jede Strecke doppelt so lang braucht wie normal.
Sind wir nicht alle ein bisschen Toskana-Fraktion?
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Fahrer im Rückspiegel sein Geld im Tourismus verdient, ist dabei recht hoch. 60 Prozent der Menschen arbeiten im Dienstleistungsbereich, die meisten davon in Bereichen, die direkt oder indirekt von den Reisenden profitieren. Die Tourismuszahlen sind beeindruckend: 10 Millionen Ankünfte pro Jahr, 42 Millionen Übernachtungen. Mit rund 4 Millionen Übernachtungen stellen deutsche Reisende die größte Gruppe an ausländischen Urlaubern.
Sind wir also alle ein bisschen „Toskana-Fraktion“? Dieses süffisante, leicht abwertende Schlagwort tauchte Anfang der 1990er-Jahre auf, um eine Gruppe von linken Politikern und Intellektuellen zu kategorisieren. Die Kritik sollte ausdrücken, dass diese Menschen das angenehme, genussvolle Leben in der Toskana den politischen Anstrengungen in der Heimat vorziehen.
Selbst wenn es so wäre – wer könnte es ihnen verdenken? Geschadet hat die Diskussion der Toskana auf alle Fälle nicht. Im Gegenteil: Selbst mancher Nicht-Bildungsbürger ist dadurch erst auf die Sehnsuchtsregion aufmerksam geworden. Bilder von alten Steinhäusern auf kleinen Hügeln im Sonnenuntergang zwischen Zypressen erwecken einfach die romantische Seite in den Menschen und das Gefühl: „Da will ich auch mal hin.“ Sind die Postkartenmotive und die verklärten Beschreibungen der gastronomischen Köstlichkeiten aber alle nur Klischee?
Touristenmassen hier, Bilderbuch-Ecken dort
Ja und Nein. Ja, weil auch in der Toskana die Zeit nicht stehengeblieben ist und die unschönen Auswirkungen von Industrie und Tourismus an vielen Orten unübersehbar sind. Und weil der Urlauber vor dem schiefen Turm von Pisa natürlich dieselben lieblosen Restaurants ohne jeglichen gastronomischen Anspruch vorfindet wie an so vielen Stellen dieser Welt, die täglich von Touristenmassen überschwemmt werden. Andererseits ein klares Nein, weil es dafür zu viele Bilderbuch-Ecken gibt, an denen man sich nicht sattsehen kann. Und mit ein bisschen Suchen und Fragen überall eine großartige Trattoria zu finden ist, die man vor lauter kulinarischer Wonne am liebsten gar nicht mehr verlassen würde.
Dafür lohnt es sich jederzeit, Geheimtipps zu folgen und auch mal eine halbe Stunde lang über immer enger werdende Straßen ein bezauberndes Dörfchen auf dem Hügel anzusteuern – also gefühlt irgendwo am Ende der Welt zu landen.
La Mamma steht schon in der Küchentür und freut sich auf die Bewirtung der Gäste. Deren Bestellung dauert aber ein wenig, da sie sich vom Kellner mit Händen und Füßen und dem ein oder anderen Brocken Englisch die Spezialitäten der Karte erklären lassen müssen.
Ohne mehrsprachige Karte wie in den großen Städten schadet ein wenig Neugierde und Lust auf Überraschungen nicht. Stehen dem Gast noch zu viele Fragezeichen ins Gesicht geschrieben, kommt aus der Küche auch mal einfach ein Probierhäppchen, um für Aufklärung zu sorgen. Für den Hungrigen findet sich immer eine Lösung.
Am besten mit kulinarischem Wörterbuch
Nicht anders verhält es sich im täglichen Leben. Keine Beachtung findet in der Toskana nur, wer davon ausgeht, dass die Menschen dort schon gut genug Deutsch sprechen. Das mag an den touristischen Hotspots noch funktionieren. Wer aber ab und an die ausgetretenen Pfade verlassen will, sollte zumindest die allerwichtigsten Wörter und Floskeln parat haben – und ein (kulinarisches) italienisches Wörterbuch.
Sobald man mit ein, zwei Sätzen auf Italienisch einen verbalen Schritt auf einen Einheimischen zu macht, wird aus dem leicht reserviert wirkenden Toskaner ein Feuerwerk an Erzähl- und Erklärkunst. Der Urlauber versteht von alle dem nur 5 Prozent? Kein Problem! Das Wichtigste an dem 15-minütigen Monolog: Einer hat ehrliches Interesse gezeigt, der andere durfte helfen. Und beide haben herzlich miteinander gelacht.
In der Region der Maler, Bildhauer und Architekten, der Heimat der Etrusker, der Wiege der europäischen Kultur steckt nunmal in jedem Bewohner zumindest noch ein kleiner Künstler. Nicht zu vergessen die weltberühmten Dichter Dante, Petrarca, Bocaccio, auf die jeder Toskaner noch immer stolz ist. Deren poetische Sprache man noch immer aus der ganz besonderen toskanischen Sprachmelodie herauszuhören meint.
Wer sich nicht traut, ein Gespräch anzufangen, setzt sich einfach in ein Café – zum Beispiel auf der wunderschönen Piazza San Michele in Lucca – und lauscht den Einheimischen. Staunt, genießt und beschließt: Das Leben ist schön. In der Toskana oft besonders schön.
3 Tipps für den Toskana-Urlaub:
- Zu Gast beim Künstler: Das kleine B&B von Roberto Barberi in Camaiore ist nicht nur wegen seiner Kunstwerke und Bilder wunderschön. Er und seine Frau kochen himmlisch gut, sie sind bezaubernde Gastgeber und sparen nicht mit guten Tipps. Wer will, bekommt Malunterricht oder darf mit Roberto zusammen bekannte Künstler im Nachbarort Pietrasante besuchen – mit Einblicken, die normalen Touristen verwehrt bleiben.
- Fußbad in Bagno Vignoni: Ein bezaubernder, kleiner Ort, der um ein großes Thermalbecken herum gebaut ist. In schmalen Kanälen fließt das Thermalwasser Richtung Tal. Ideal, um seine Füße in die wohltuende Wärme hineinzutauchen. Einheimische und Urlauber tun das mit Begeisterung – ob morgens um 7 oder nachts um 23 Uhr.
- Parco Naturale della Maremma: Im riesigen Naturpark gibt es nicht nur die Bútteri, die toskanischen Cowboys mit ihren weißen, behörnten Rindern zu bestaunen, sondern auch jede Menge anderer (wilder) Tiere. Der dazugehörige, wilde Strand ist ein Paradies für Individualisten, die keine Lust auf überteuerte Strandliegen haben und sich ihren Sonnenschutz an den entwurzelten Bäumen selbst bauen.
Bildnachweis:
Titelbild: © Depositphotos.com/Tomasz Tulik
Pitigliano: © Depositphotos.com/Jakob Radlgruber
Restliche Fotos: Mischa Miltenberger