Blut strömt ihm über die Stirn. Es kommt von den Dornen der Krone, die in die Haut stechen. Mit den letzten Kräften schleppt Jesus von Nazareth sein Kreuz vorbei an alten Gemäuern, durch engen Gassen von Matera, genauer gesagt durch die Altstadt „I Sassi di Matera“. Hier, rund 200 km östlich von Neapel und circa eine Stunde von Bari, wurde der Film „Passion Christi“ von Mel Gibson gedreht, nicht etwa in Jerusalem.
Man nennt daher Teile der Altstadt auch „das zweite Bethlehem“, denn im alten Stadtteil von Matera, das bis in die Antike zurückreicht, ist die Zeit scheinbar vorbeigegangen. Man kann es sich kaum vorstellen, wie viele Generationen in den Wohnhöhlen lebten, durch die Gassen und über die unzähligen Treppen eilten.
Das Viertel aus der Vergangenheit ist die perfekte Filmkulisse. Im Jahr 1993 wurde Sassi von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt und unter Denkmalschutz gestellt, tausendjähriges Lebenssystem, das bewahrt und den Nachkommen überliefert werden muss. Es entstanden Luxusunterkünfte und Restaurants. Im Jahr 2019 ist Matera dank der Sassi Kulturhauptstadt Europas. Doch nicht immer waren die Sassi Vorzeigeviertel. Ganz im Gegenteil.
Zurück in die Jungsteinzeit
Entlang der tiefen Schlucht auf einem karstigen Plateau kleben weiße Gebäude so organisch wie ein Wespennest. Rundherum karge Landschaft, die durch grüne Wiesen aufgelockert wird. Dem weichen Tuffstein ist es zu verdanken, das hier auf 400 m Höhe ein urbanes Wunder entstand. An zwei Schluchten, der Sasso Caveoso und der Sasso Barisano, gruben Menschen Wohnhöhlen. Bereits in der Jungsteinzeit , also vor rund 4000 wurde das Gebiet besiedelt. Somit gehört Matera zu den ältesten Städten der Welt. Die Sassi, was eigentlich nur „Steine“ bedeutet, entstand durch Auswaschungen im weichen Kalkstein natürliche Höhlen. Die Menschen bauten diese aus und verschlossen sie mit dem abgetragene Gestein. Später versahen die Bewohner ihre Wohnhöhlen noch mit gemauerten Wänden.
Historisch war das Jahr 938 bedeutsam, als Sarazenen den Ort verwüsteten. 1043 kam Matera unter normannische Herrschaft und wurde Königssitz. Eine Blütezeit, in der die Stadt zu beträchtlichem Reichtum gelangte. Als später lokale Adelige das Gebiet beherrschten kam es zu Rivalitäten, Machtkämpfen und Revolten. Von 1806 bis zur letzten Verwaltungsreform war die Stadt Hauptstadt der Provinz Basilikata, heute ist sie nur noch Verwaltungssitz der gleichnamigen Provinz, die etwa die Hälfte der Region Basilikata ausmacht.
Der historische Teil von Matera ist in die beiden Stadtviertel Sasso Barisano und Sasso Caveoso aufgeteilt. Die verschiedenen Epochen kann man heute anhand der Baustile der Wohnhäuser, Kirchen und Klöster in den Sassi nachvollziehen – die Geschichte der Menschen in Stein gegraben.
Die Sassi: Nationaler Schandfleck
Vor allem im frühen Mittelalter stieg die Zahl dieser Einsiedeleien an, In späteren Jahrhunderten entstand auf der Hochebene von Matera ein neuer Stadtteil. Dort zu wohnen war allerdings teuer und die ärmeren Menschen suchten vermehrt Unterschlupf in den Höhlen. Der Verfall der Sassi begann. Mittelalterliche Chronisten sprachen vom „Spiegel des gestirnten Himmels“ genannt, der Schriftsteller Carlo Levi sah in der Stadt eher die trichterförmigen Hölle Dantes. Die niedrigen Hauseingänge, die windschiefen Wände und winzigen Fenster empfinden wir heute als pittoresk. Was wir dabei vergessen, ist dass hier Menschen in diesen einfachsten Höhlen leben, ohne Strom ohne fließend Wasser, zusammen mit dem Vieh. Und das nicht etwa nur im Mittelalter, sondern bis in die 1950er-Jahre. Es ist das Zeugnis größter Armut. Sassi war der Schandfleck Italiens.
Carlo Levis Buch „Christus kam nur bis Eboli“ aus dem Jahr 1944 und der gleichnamige Film von Francesco Rosi (1978) machten die katastrophalen hygienischen Zustände in der ganzen Welt bekannt. Unter katastrophalen hygienischen Umständen lebten 1948 etwa 15.000 Menschen in 3300 Räumen und das blieb nicht folgenlos: Die Malaria konnte sich rasend schnell ausbreiten, Ungezieferbefall, Läuse, Würmer und vieles mehr plagten die Bewohner. Ab dem Jahr 1954 bis in die 1960er-Jahre wurde das Viertel zwangsgeräumt. Zu dieser Zeit lebten 20.000 Menschen hier. Sie wurden in die neu errichteten Stadtteile La Martella, Venusio, Borgo Picciano A und Borgo Picciano B umgesiedelt.
Aufwertung eines Kulturerbes
Erst Mitte der 1980er-Jahre erkannte man den kulturhistorischen Wert der Höhlensiedlung. Man nahm Geld in die Hand und fing an, die Gebäude nach und nach zu restaurieren. Zu den Sehenswürdigkeiten zählen heute unter anderem die Felsenkirche San Pietro Barisano, die Kirche San Antonio Abate oder die Klosteranlage Madonna della Virtù aus dem 10.Jahrhundert. Spätestens nach der Ernennung zur Weltkulturerbestätte 1993 entstanden die ersten Eigentumswohnungen, Hotels, Museen und Cafés. Einige Wohnungen wurden renoviert, um sie zu besichtigen, genauso wie die vier Felsenkirchen. In der Casa Grotta lässt sich eine originalgetreu nachgestellte Wohnung besichtigen.
Diese Grottenwohnung wurde zum Museum ausgebaut. Hier erlebt man die Lebensumstände der Bewohner Materas hautnah. Fünf Zimmer erstrecken sich über drei Stockwerke in den Felsen.Wer sich fragt, wieso das Ehebett auf so hohen Füßen steht: Damit die Ziegen und Schweine darunter Platz finden. So war es Gang und Gebe. Direkt nebenan liegt die Cripta di San Andrea. Hier in den Felsen lebten und wirkten Mönche bereits im 12. Jahrhundert. Über drei Stockwerke erstreckt sich die Krypta. eine in den Felsen getriebene, ehemalige Wohn- und Wirkungsstätte von Mönchen. Zu sehen sind Zisternensysteme, die die Mönche mit Trinkwasser versorgten, die Schlafräume der Mönche und Räume für die sakralen Rituale.
Chance oder Fluch? Der Aufschwung kommt nach Matera
Kurzum: Man hat sich auf den Tourismus eingestellt. Doch die Faszination der Sassi sprach sich herum. Der Tourismus erlebt eine Aufschwung. Im Jahr 2015 besuchten rund 154.000 Besucher die Stadt, im Jahr 2018 sind es dann schon rund 500.000. Inzwischen leben und arbeiten in den Sassi wieder etwa 2.200 Menschen, in erster Linie wegen des Tourismus. Im Jahr 2019, wenn Matera zusammen mit dem bulgarischen Plovdiv als europäische Kulturhauptstadt ist, werden weitaus mehr Besucher erwartet, man spricht von mindestens einer Millionen Besuchern. Fördergelder stehen bereits, Wettbewerbe für Kulturschaffende wurden vergeben, kulturelle Veranstaltungen und Ausstellungen sind geplant. Bereits jetzt sind einige Programme angelaufen, so wird zum Beispiel an jedem 19. Eines Monats ein ganz besonderes kulturelles Programm wie Lesungen, Konzerte , Theater der Sport angeboten. Das Ziel ist es allerdings, Matera dauerhaft als Kulturreiseziel zu etablieren. Die Angst vor dem Loch nach dem Jahr 2019 ist groß und auch die Probleme sind sichtbar, zum Beispiel in Sachen Parkplätze, davon sind schon jetzt zu wenige vorhanden.
Noch mehr Kultur!
Matera hat neben den Sassi noch mehr an kulturellen und landschaftlichen Sehenswürdigkeit zu bieten. So sollte man unbedingt den Parco Archeologico Storico Naturale della Murgia e delle Chiese Rupestri del Materano (Archäologisch-Historischer Naturpark der Murgia und der Felsenkirchen von Matera) besuchen. In einer Art Freilichtmuseum mit über 8000 Hektar, erstreckt sich eine felsige Wüste mit tiefen Canyons. Auf dem Gebiet befinden sich uralte Höhlen, die bis in neolithischer Zeit zurückgehen. Steinzeitliche Ausgrabungsstätten und Felsenkirchen, deren Erbauung bis ins Römische Reich zurückreichen kann man hier bei ausgedehnten Spaziergängen erkunden. Eine weitere Sehenswürdigkeit ist das Castello Tramontano. Es wurde Anfang des 16. Jahrhunderts von Gian Carlo Tramontano, dem Grafen von Matera, außerhalb der Stadtmauern errichtet.
Das Kastell mit seinen drei großen Türmen liegt auf einem Hügel über der Altstadt von Matera. Der Graf, der das Kastell errichtet war nicht gerade beliebt bei seinem Volk. Er war erbitterter Steuereintreiber. Am 29. Dezember 1514 wurde er nach dem Besuch in der Kathedrale auf offener Straße getötet. Der Bau blieb deshalb unvollendet. Bei Ausgrabungen fand man Fundamente für weitere Türme und unterirdische Wasserspeicher mit Säulen und Deckengewölben gefunden. Ein Zeugnis für das Leben in diesem Zeitalter.
Zeitreise: Die Sassi hautnah erleben
Viele Touristen, die nach Matera kommen, wollen direkt in den Höhlen übernachten. Das Erlebnis dieser uralten Siedlung wird mit einer Übernachtung im sogenannten Grottenhotel abgerundet. Eines der bekanntesten und hochwertigsten ist das „Le Grotte della Civita“. Die Civita ist der antike und äußerste Teil von Sassi. Hier lebten vor allem die Schäfer. Das Hotel besteht aus 18 Zimmer, die in 18 Grotten untergebracht sind. Die Zimmer haben keine Fernseher oder Minibar, dafür Fußbodenheizung und werden im Sommer gekühlt. Auch Internetanschluss ist vorhanden. Von jedem Zimmer hat man Zugang zum Garten mit Blumen und Obstbäumen, von wo man einen grandiosen Ausblick über das Tal genießen kann. Das Ambiente dieser atmosphärischen Grotten in Kombination mit einer minimalistischen Einrichtung sorgt für ein besonderes Erlebnis. Wenn am Abend die Zimmer mit Kerzen erleuchtet werden, wird es besonders stimmungsvoll. So auch im öffentlichen Bereich samt Restaurant, der in einer alten Felsenkirche untergebracht wurde.
Um Matera nachhaltig als hochwertiges Reiseziel zu etablieren, muss sich Matera auf seine größtes Gut konzentrieren, die archaischen Höhlen und die Kultur der Wohnhöhlen. Gar nicht so leicht, die Balance zwischen Erhalt einerseits und musealer Kulisse andererseits zu stemmen, gerade wenn die zahlreichen Neuerungen an der Authentizität ruckeln. Wie kann man sinnvoll in einen Ort investierten, ohne ein weiteres Pompeji oder Venedig daraus zu machen und ohne, dass die Stadt Haifischbecken von Immobilienspekulanten wird.
Doch die Hoffnung ist da: Wenn die Fördergelder sinnvoll eingesetzt werden und in nachhaltigen, sensiblen Tourismus investiert werden, dann hat Matera eine Chance. Die Chance seine Einzigartigkeit zu erhalten, sich als Reiseziel zu festigen, das mehr ist als Ausflugsort der Massen!
Denn die Faszination ist ungebrochen. An niemanden, der diesen besonderen Ort besucht, geht die Faszination einfach so vorbei. Wenn man an der Mauer der Schlucht steht, hinter einem die uralten Felsenhäuser, auf den Berghängen die grasenden Ziegen, dann reist man den Alltag der Menschen vor Tausenden von Jahren. Ein Erlebnis, das sich verkaufen lässt, aber mit Samthandschuhen angefasst werden muss, damit es wirklich erlebbar bleibt.
Mehr über Filmtourismus: Filmtourismus: Über die Reisen zu den schönsten Sehnsuchtsorten