Juist ist nicht wie jede andere Nordseeinsel. Juist muss man sich verdienen.
Das geht schon bei der Anreise von Norddeich Mole los. Mal kurz mit der Fähre rüberhopsen geht nicht. Nur bei Hochwasser können die Schiffe ein- und auslaufen, also maximal ein- bis zweimal pro Tag. „Tidenabhängig“ nennt sich das. Bei Niedrigwasser ist schlicht zu wenig Wasser in der Fährrinne.
Am Fähranleger nebenan setzen alle zwei Stunden Hunderte von Menschen nach Norderney über. Um nach Juist zu kommen, harren die Reisenden geduldig in der top modernen Wartehalle aus, bis ihre eine Verbindung pro Tag startet.
Die Insel für echte Fans, Liebhaber, Neugierige
Spätestens jetzt ist klar: Norderney ist für Jedermann zu jeder Zeit. Juist ist für die, die das wirklich wollen. Echte Fans, Liebhaber, Neugierige. Belohnt werden sie mit ganz schön viel Fahrzeit für ihr Geld.
Rund 90 Minuten lang gleitet die Fähre sanft und gemächlich durch die natürliche Fahrrinne. Im Zickzack-Kurs. Gerade kann ja jeder. Weg von der Insel, in Richtung Insel, weg von der Insel, in Richtung Insel, weg von der Insel und wieder hin. Markiert ist der Schlängelweg durchs seichte Gewässer mit Bojen und Pricken, das sind fünf bis sieben Meter hohe, dünne Birkenstämme.
Eine Bewährungsprobe für Ungeduldige. Aber selbst der größte Hektiker verfällt beim Annähern an Juist irgendwann in einen meditativen Zustand. Schließlich beginnt die Magie der Insel schon zu wirken.
Fast 45 Minuten lang schippert die Fähre an der mit 17 Kilometer längsten und mit maximal einem Kilometer schmalsten Nordseeinsel entlang, bis der Hafen erreicht ist.
Nun bietet sich ein Spektakel, wie es nur auf autofreien Inseln möglich ist: Dutzende von Radanhängern und Bollerwagen der Hotels und Pensionen stehen bereit, um das Gepäck der Gäste zu ihren Unterkünften zu bringen. Daneben warten Kutschen und Gepäckservices auf ihre Kunden. Hier ist nicht der mit dem größten Auto der Schnellste, sondern wer am schnellsten Radfahren oder seinen Hänger oder Koffer ziehen kann. Insel-Sozialismus in seiner perfekten Form.
So rollert und trappelt es in Richtung Stadt. Also sagen wir eher Hauptort. Denn Juist mit seinem Ortsteil Loog hat gerade einmal rund 1600 Einwohner. Die meisten Unterkünfte sind in wenigen Minuten Fußmarsch erreicht. Wer es weiter hat, greift zumindest bei An- und Abreise gerne einmal auf das pferdebetriebene Inseltaxi zurück.
Wo keine Autos, da viel Ruhe. Für einen lärm- und hektikgeprägten Großstädter wahrscheinlich fast schon beängstigend. Zumindest zu Beginn.
Wenn das Einzige, was man abends noch hört, das Ticken der Küchenuhr ist, fragt man sich unweigerlich: Ist das noch real? Oder lebe ich möglicherweise schon gar nicht mehr?
Wer, um diesbezüglich sicherzugehen, am späteren Abend die Ferienwohnung oder das Hotel noch einmal verlässt, der bekommt doch noch sanft etwas auf die Ohren. Auf der Wattseite die Geräusche der verschiedenen Vögel, auf der offenen Nordseeseite das Brandungsrauschen.
Juist -alles nur eine große Filmkulisse?
Und zwischendrin ein – zumindest außerhalb der Hauptsaison – wie ausgestorben wirkender Ort. Gedämpftes Licht, kaum Geräusche, fast menschenleer: eine leicht gespenstische Szenerie. Kurz kommt der Gedanke auf „Bin ich hier in einer großen Filmkulisse gelandet?“
Nein, Juist ist sehr real. Und doch wieder nicht. „Töwerland“, also Zauberland, nennen die Einheimischen ihre Insel. Wegen der unbestreitbaren Schönheit. Aber auch wegen der besonderen Energie, der sich niemand entziehen kann.
„Juist verdoppelt meine Gefühle – im Positiven wie im Negativen“, sagt Uta Jentjens. Sie ist so etwas wie das Gesicht der Insel. Durch ihren Blog, auf dem sie seit Jahren täglich einen neuen Beitrag veröffentlicht und ihren Auftritt als Co-Moderatorin von „Wunderschön“ bei dem Dreh auf Juist kennt sie so gut wie jeder Reisende. Der Liebe wegen ist sie vom Festland aufs Zauberland gezogen und kennt – auch dank ihrer Arbeit – die Insel in-und auswendig.
Und auch das, was Juist mit den Reisenden anstellt. „Es gibt nur immer oder einmal. Die Menschen lieben Juist oder kommen nie wieder“, erzählt sie.
Die Liebe zur Insel vererbt sich über Generationen
Bei den meisten scheint es Liebe zu sein. Denn überall erzählen einem Menschen, dass sie so oft wie irgend möglich auf die Insel kommen. Oft pilgern Familien seit Generationen und mit mehreren Generationen im Schlepptau dorthin. Vererbte Inselmagie.
Was macht den zauberhaften Charme eigentlich aus? Vor allem die überwältigende Schönheit der Natur. Eine beeindruckende Dünenlandschaft, die immer wieder neue Facetten bietet. Der 17 Kilometer lange und unfassbar breite Strand, an dem die anderen Spaziergänger aus der Entfernung nur noch wie Ameisen wirken.
Das ewige Wechselspiel von Sonne, Wolken und Niederschlägen. Und der Wind, der mal schmeichelnd säuselt, mal einen mit voller Breitseite anbrüllt und den Spaziergang zu einer echten Kraftprobe macht.
Das Spektakuläre an Juist ist das, was überdrehte Event-Freaks, Animations-Freunde und sonstige Dauerbeschäftigte als unspektakulär bezeichnen würden: das Wandern, Laufen, Spazierengehen, Schreiten, Flanieren, Joggen, meditative Gehen – so viele Stunden am Tag wie möglich und am besten direkt am Wasser entlang.
In Bewegung sein, die Meeresbrise tief einatmen, das faszinierende Spiel der Natur mir all ihrer Pracht, Gewalt und Größe beobachten. Staunen, innehalten, runterkommen.
Die eigene Unwichtigkeit verstehen, anerkennen und dadurch entspannter werden. All das funktioniert auf Juist fast automatisch, wenn man sich auf den Rhythmus der Insel einlässt.
Wem das für Erzählungen nach der Rückkehr nicht reicht, der kann stolz von seiner Thalasso-Therapie berichten. Denn die Luft auf Juist ist besonders rein, staubfrei und allergenarm und bietet einen hohen Feuchtigkeits-, Jod- und Salzgehalt. Ein Spaziergang am Wasser gleicht also einer ausgedehnten Wellness-Einheit für die Lunge – und das völlig kostenlos.
Die größten Attraktionen auf Juist kosten nichts
Ist es nicht wunderbar, wenn die größten Attraktionen eines Urlaubsortes den Geldbeutel nicht belasten? So auch der Otto Leege Pfad östlich des Hauptortes, der mit seinen 12 Stationen einerseits die Natur erklärt, auf der anderen Seite zur inneren Einkehr einlädt. Es geht darum, durch Schautafeln die komplexen ökologischen Systeme und ihre Empfindlichkeit besser zu verstehen.
Der Besucher erfährt Spannendes über die Bedeutung des bunten Lebensraumes Salzwiese mit ihren ganz speziellen Pflanzen und der Rückzugsfläche für Vögel bei Brut und Aufzucht. Austernfischer und Ringelgans sind ihm danach genauso geläufig wie Bäumchenröhrenwurm, Meersenf und Schlickgras.
Gleichzeitig lenken Elemente wie die Windharfe (erzeugt Töne, wenn sie in eine bestimmte Windrichtung gedreht wird), die Wasserklangschale und die menschliche Sonnenuhr die Sinne nach innen.
Wer auf dem Pfad unterwegs ist, kann quasi fühlen, wie seine eigene Rolle als Mensch innerhalb der natürlichen Systeme ist. Und verinnerlicht, warum gewisse Bereich der Insel entweder nie oder zu bestimmten Zeiten nicht betreten werden dürfen. Die Ruhezonen dienen dem Schutz der Tier- und Pflanzenwelt – und damit gleichzeitig den Menschen vor Ort. Denn nur durch eine intakte Pflanzendecke dienen die Dünen auch weiterhin als Lebensversicherung der Insulaner und ihrer Gäste bei Sturmfluten.
Entzwei gerissen und wieder geflickt
1651 suchte ein besonders gewaltiges Exemplar die Insel heim. Die Petri-Sturmflut riss Juist westlich von Loog entzwei. Der Hammersee kennzeichnet diese Stelle. Erst 1932 wurden die getrennten Inselteile wieder durch einen von Menschen angelegten Dünendeich verbunden. Das Salzwasser einer weiteren Sturmflut blieb in der niedrigen Bucht und bildete einen See, dessen Salzgehalt im Lauf der Zeit immer mehr durch Regenwasser abgebaut wurde. Durch diesen Prozess entstand der größte Süßwassersee aller ostfriesischen Inseln.
Ein Rundgang um den See mit seinen zwei völlig unterschiedlichen Seiten sollte sich kein Urlauber entgehen lassen. Auf der Wattseite ein geradezu mystischer Zauberwald mit vom Wind gebogenen Bäumen, am gegenüberliegenden Ufer viel freie Fläche in der offenen Dünenlandschaft.
Mit dem Rad geht’s am schnellsten
Wem Laufen zu anstrengend und Kutsche fahren zu teuer ist, der mietet sich auf Juist ein Rad. In Abwesenheit von Autos stellen Fahrräder die schnellste Fortbewegungsart auf der Insel dar. So strampeln Insulaner und Touristen in Heerscharen auf der Wattseite die 17 Kilometer rauf und runter.
Die Straßenverkehrsordnung gilt auch hier, was gerade die Fußgänger oft vergessen. Wo kein Straßenlärm, da kein prüfender Blick beim Überqueren der Straße – und schwupp muss der heran eilende Radfahrer schon wieder ein Ausweichmanöver fahren. Vor allem in der Hauptsaison sind Zusammenstöße an der Tagesordnung.
Die beeindruckende Erkenntnis von Juist: Fortbewegung und Logistik funktioniert auch ohne motorisierte Gefährte.
Lediglich die Post, die Ärzte, der Rettungsdienst und die Feuerwehr dürfen aufs Gaspedal drücken. Der Rest läuft, radelt oder fährt Kutsche.
Die Pferdefuhrwerke ersetzen alle Arten von Autos oder Lastwagen, die wir vom Festland gewohnt sind. Sie dienen als Flughafen-Shuttle (nach den 5 Minuten Flug von Norddeich dauert die Fahrt in den Ort gemütliche 30 Minuten), als Getränkelaster für die Gastronomie, als Baustoff-Lieferant für die Handwerker, als Müllabfuhr und zum Warentransport für den Einzelhandel.
Autofrei und Spaß dabei: Die Besucher genießen die Ruhe und gute Luft ohne Abgase. Den Einheimischen ist mitunter schon anzusehen, dass sie am liebsten mal runter von der Kutsche und rein in einen motorisierten Wagen steigen würden. Der Duft von Pferden und ihren Hinterlassenschaften zieht derweil durch die Straßen der Ortsteile. Immer in der Nähe der eifrige Mann auf dem Rad mit Anhänger, der die Pferdeäpfel aufkehrt und entsorgt.
Wandern, Spielen (und im Sommer Baden) im riesengroßen Sandkasten an der Nordsee, Bummeln durch den Ort mit Einkehr, abends ein oder mehrere Getränke oben auf den Dünen mit Blick aufs Meer: Mehr braucht das Herz des Juist-Urlaubers im Grunde genommen nicht.
Wem das noch nicht genügt, der kann eine Yogastunde buchen, im TöwerVital-Schwimmbad im 30 Grad warmen Nordseewasser baden, Lenkdrachen am Strand steigen lassen, zum Brandungsangeln gehen, im Kurhaus Tischtennis oder Billard spielen, einem Konzert lauschen oder im Sommer eine Kitesurfkurs buchen.
Wenn dann nach ein, zwei oder drei Wochen auf dem Zauberland die Fähre zurückgeht, stellt sich bei vielen Reisenden ein Gefühl des Abschiedsschmerzes ein. Beim Ablegen wird das ein oder andere Tränchen verdrückt oder offen gezeigt. Diese Insel zieht einen in seinen Bann. Flüstert einem sanft zu: „Komm wieder, wir gehören zusammen!“ Und du denkst dir: „Ja, das hab ich mir verdient.“
3 Tipps für Juist:
- Wattführung mit Heino. Fast 70 Jahre geballte Watterfahrung gepaart mit großer Liebe zu dem geschützten Lebensraum, der so viele große und kleine tierische Überraschungen birgt. Heino liebt das Watt, Heino lebt für das Watt, Heino kämpft für das Wohl des Watts. Wer das spannende Ökosystem Watt verstehen will, ist bei ihm und seinem Humor in besten Händen.
- Besuch der Domäne Bill. Wirklich genau das Gegenteil eines Geheimtipps und trotzdem (oder genau deshalb) ein absoluter Pflichttermin auf Juist. Die selbst gemachten Rosinenstuten – lauwarm mit darauf schmelzender Butter – sind genauso berühmt wie überragend lecker. Auch die restlichen Speisen, das Ambiente und die Lage am Westrand der Insel sind bemerkenswert. Besser geht’s nicht.
- Gemütlicher Kinoabend. Die Filme sind oft top aktuell, die Einrichtung wie aus früheren, romantischen Kinozeiten. Wer im Verzehrkino Hunger oder Durst bekommt, knipst nur das Lämpchen auf seinem Tisch aus und schon kommt ein freundlicher Angestellter und sorgt für Nachschub. Gemütlich, einzigartig, legendär!
Fotos: Mischa Miltenberger