Die Japaner nennen es das „Paris-Syndrom“. Es ist eine Art Schock, den vornehmliche junge Japanerinnen erleiden, wenn sie zum ersten Mal nach Paris kommen. Jahren der Vorfreude und schönen Vorstellungen folgen Momente der Ernüchterung. Nichts ist so, wie sie es sich ausgemalt hatten.
Statt verliebter und wohl gekleideter Paare, die an der Seine flanieren und der intellektuellen Bohème des 19. Jahrhunderts warten Gedränge, Hektik und unfreundliche Bedienungen. Statt romantischer Hintergrundmusik am Eiffelturm und immerwährendem Frühling gibt es Dreck, Drogendealer und Tristesse.
Die Enttäuschung über Paris und der daraus folgenden Depression wurde bereits in den 1990er-Jahren von dem japanische Psychiater Hiroaki Ota beobachtet. Bis heute soll es jedes Jahr über hundert solcher Fälle geben, mindestens.
Paris: Aus Filmen und Büchern genährtes Klischee
Falsche Vorstellungen, über Jahre genährt aus Filmen und Büchern, treffen auf die harte Realität. Ein schwieriges Unterfangen. Nicht nur Japaner kennen das plötzliche Gefühl der Ernüchterung, wenn sie die Stadt der Liebe zum ersten Mal betreten.
Kaum eine Stadt ist Ort so vieler Träume. Liebe, Licht, Freiheit. Der Gipfel der Frankophilie will hier erklommen werden. Paris hat es sicherlich nicht leicht, den mit Kitsch überhäuften Vorstellungen seiner Besucher gerecht zu werden.
Für viele ist es die romantischste Stadt der Welt, verkörpert von dem berühmten schwarz-weiß Foto von Robert Doisneau, auf dem zwei Liebende in ewiger Umarmung die Liebe in Ewigkeit meißeln. Ein Schloss mit dem Liebsten an der Pont des Arts befestigen, um sich gegenseitig die große Liebe zu schwören.
Einmal durch die Rue Descartes schlendern, wo Hemingway seine Bücher schrieb. Paris, die Stadt lebendig gewordener Geschichte. Wohnort berühmter Schriftsteller und Künstler. Paris, die Stadt der wohl gekleideten Frauen, zuhause von Dior und Coco Chanel. Mekka für Designer und Modefans.
Egal, ob Stadt der Liebe, der Mode oder Stadt der besten Croissants, wer nach Paris kommt, der erwartet etwas. Dabei ist die Stadt an der Seine vor allem eines: Moderne Hauptstadtmetropole mit über 2 Millionen Einwohnern – und mit über 30 Millionen Hotelgästen jährlich im Großraum Paris das beliebteste Reiseziel weltweit. Da kann es mit der Kleinstadtromantik schon einmal schwierig werden.
Spätestens seit Audrey Tautou 2001 in „Die fabelhafte Welt der Amélie“, als Amélie Poulain verträumt durch die Straßen von Montmartre flaniert, ist Paris in den Köpfen seiner Besucher mit einem Vintagefilter belegt, stehen geblieben irgendwo Anfang des 20. Jahrhunderts.
Pfeifende Gemüsehändler, kleine spielende Mädchen am Kanal Saint-Martin, Crème brûlée mit knackender Kruste, Liebesbriefe und Concierges. Ein intimes Paris, voller Farben, Kleinigkeiten und stets mit Yann Thierssens bittersüßen Hintergrundmusik unterlegt. Zu schön, um wahr zu sein.
Gare du Nord: Prunkvolle Fassade bei der Ankunft
Dabei geht bei der Ankunft alles noch gut los. Der 1846 errichtete Gare du Nord sieht mit seiner prunkvollen Fassade aus wie aus verklärten Parisvisionen und dürfte auch Amélie-Fans aus dem Film bekannt vorkommen.
Doch der im zehnten Pariser Arrondissement gelegenen Bahnhof ist auch Dreh- und Angelpunkt für über 700.000 Reisende am Tag, einer der sechs Hauptbahnhöfe Paris‘ und der drittgrößte Bahnhof in Europa.
Spätestens beim Betreten der Metro ist es mit dem positiven ersten Eindruck vorbei. Stickig, dreckig, voll. Dann kommt die Erkenntnis: Paris ist groß. Kein kleines romantisch-verklärtes Nest, wie man sich das eventuell naiverweise ausgemalt hatte.
Wer es dann geschafft hat, sich einen Überblick über das Streckennetz zu verschaffen, die passende Station und entsprechende Linie zu finden, der hat zumindest schon einmal eine große Hürde gemeistert. Dann heißt es nur noch rein in den Wagon, der am späten Freitagabend gnadenlos überfüllt ist. Körper an Körper, ein Spielplatz für Taschendiebe, wenn man nicht achtgibt.
Erste Ernüchterung macht sich breit
Das teure Hotel ist ein wenig in die Jahre gekommen und auch beim ersten Abendessen macht sich Ernüchterung breit. Im erstbesten Laden kommen beim Blick auf die Karte gleich zwei Dinge zum Vorschein: Erstens: Alles steht hier auf französisch. Zweitens: Das Einzige, was sich entziffern lässt, sind die Preise – und die haben es in sich. Der Versuch, beim Kellner zu erfragen, um was es sich bei den einzelnen Speisen handelt, scheitert kläglich.
Englisch wird hier nicht gesprochen und viel Zeit zum Erklären hat er auch nicht. Aber gut, für ihre Freundlichkeit sind Paris‘ Kellner nun wirklich nicht bekannt.
Also folgt die Bestellung nach dem Prinzip „Wundertüte“, die sich in den als noble Restaurants getarnten Touristenfallen als Mogelpackung herausstellen. Eine kleine Portion lieblos angerichtetes Fleisch mit einem Hauch Gemüse. Das ist nicht Haute-Cuisine, das ist Touristenabzocke.
Sightseeingtour, oder: Anstehen, anstehen, anstehen
Paris quillt über vor Sehenswürdigkeiten. Louvre, Eiffelturm, Centre Pompidou, Notre-Dame. Wer Sightseeing will, der bekommt hier das volle Programm. Doch in Paris bedeutet Sightseeing auch gleichzeitig Schlangestehen. Zum Beispiel am Eiffelturm. Wer hier spontan vorbeikommt, den erwartet die Anaconda unter den Warteschlangen.
Dass in Paris nicht immer strahlender Sonnenschein herrscht, merkt man meist dann, wenn man sich gerade in einer der Warteschlangen eingereiht hat. Zuerst wird die Wolkendecke dichter, dann platschen erste Tropfen unbarmherzig auf den eigens für den Parisbesuch gekauften chicen, aber nicht sehr regenabweisenden Trenchcoat. Doch wer schon eine halbe Stunde anstehen hinter sich hat und einige Meter näher am Ziel ist, der lässt sich von ein paar Regentropfen nicht vertreiben. Also Zähne zusammenbeißen, warten und beim nächsten Mal ein Vorabticket im Internet kaufen.
So lässt sich die lästige Warterei umgehen und einiges an Ärger sparen. Wer sich vorab informiert, der kann die Pariser Ikone ganz entspannt erleben. Wer es schließlich bis zum Ticketschalter geschafft hat und 17 Euro für die oberste Ebene hinblättert, der will etwas zu sehen bekommen. Blöd nur, wenn der Himmel noch immer von einer grauen, zähen Wolkenschicht dominiert wird, die so gar nicht verschwinden will. Aussicht ist etwas anderes.
Aber nun gut, der 1889 eingeweihte und von Gustave Eiffel und Stephen Sauvestre für die Weltausstellung errichtete Aussichtsturm zählt zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Welt und will abgehakt werden.
Die Stadt unter den Füßen sieht mit dem richtigen schwarz-weiß-Filter als Bild bei Instagram sogar recht romantisch aus. #beautiful.
Wer sich wieder auf den Weg nach unten macht, wird schon sehnsüchtig erwartet. Souvenirverkäufer buhlen um die Aufmerksamkeit eines jeden Touristen. Mitunter auch penetrant. Die Ware der fliegenden Händler liegt nicht ohne Grund am Boden auf einem Stofftuch, das mit einer Leine verbunden ist. Kommt die Polizei, reicht ein Ruck und der Händler ist mit dem Beutel über alle Berge. Nur um circa 5 Minuten später wieder an der gleichen Stelle die Touristen vom Kauf eines kleines Eiffeltürmchens zu überzeugen.
Banlieues, Synonym für gescheiterte Integration
Illegale Einwanderer, die für ein paar kleine Euro riskieren, verhaftet und ausgewiesen zu werden. Die jeden Abend zurück in ihre trostlosen Unterkünfte in den Banlieues zurückkehren, die man als Tourist lieber meiden sollte, so heißt es.
Die Vororte sind zu einem Synonym für gescheiterte Integration geworden. Selbst in Paris, der Stadt der Liebe, gibt es soziale Brennpunkte. Kriminalität, Drogen, Trostlosigkeit stehen nicht auf der To-See-Liste der Touristen.
Heiß begehrt und schwer geschützt: Die Mona Lisa
Wer in Paris ist und auch nur das kleinste Interesse an Kunst zeigt, der geht ins Louvre. Das drittgrößte und meist besuchte Museum der Welt ist ein Mekka für Freunde der Malerei und Plastik. Und auch hier kann der Tipp mit dem Online-Ticket Nerven retten. Lieber den Besuch planen und das Ticket vorab kaufen, als stundenlang die Beine in den Bauch stehen.
In der ehemaligen Residenz der französischen Könige warten Skulpturen von Canova, Porträts von Dürer und Historienbilder von Delacroix, doch letztlich dreht sich im Louvre alles nur um eines. Oder besser gesagt, um eine: Mona Lisa.
Ist man nach gefühlten Ewigkeiten des Herumirrens in den endlosen Gängen des Museums endlich am Ziel angekommen, dem wohl berühmtesten Porträts der Welt, sieht man es schon von Weitem: nicht etwa das Bild, sondern die Massen davor.
Knipsend und drängelnd vor der Glassscheibe
Knipsend und drängelnd stehen die Besucher vor da Vincis Damenporträt und versuchen ein Bild möglichst ohne Köpfe der Besucher zu ergattern. Die Grande Dame des Louvre ist eines der berühmtesten Bilder der Welt, doch wenn man zum ersten Mal vor ihr steht, kommt bei vielen die Ernüchterung: Sie ist nicht nur von ihren Fans umringt, so, dass man kaum einen Blick erhaschen kann, sie ist auch mit einer Glasscheibe geschützt und zudem mit ihren Maßen von 77 x 53 cm nicht besonders groß.
Doch glücklicherweise ist die Mona Lisa längst nicht alles, was das Louvre zu bieten hat. Es lohnt sich, auch in den restlichen Räumen innezuhalten und all die anderen Schätze des Museums zu entdecken.
Mit all den Must-Sees auf der Liste ist Paris in erster Linie anstrengend. Menschenmassen, Schlangestehen, überdimensionierte Preise. Wahlweise läuft man sich die Füße platt, um von A nach B zu kommen oder quetscht sich in die überfüllte Metro.
Entspannt ist anders. Romantik Fehlanzeige. Dabei kann es so leicht sein! Um alle Highlights der Stadt zu sehen, gibt es auch bequemere Wege, eine Bootsfahrt über die Seine zum Beispiel. Ganz entspannt tuckert man vorbei an den Prachtbauten der Stadt: Notre-Dame, Île de la Cité, Louvre. Selbst bei ungemütlichem Nieselwetter, das Paris immer mal wieder zu bieten hat, ist die Seinefahrt eine gute und unter Deck vor allem eine trockene Variante des Sightseeings. Arm in Arm auf dem Boot kommt auch die Romantik nicht zu kurz.
Auf ein Neues, oder: Das wirkliche Paris-Gefühl
Sehenswürdigkeiten haben ihre Berechtigung, doch um Paris wirklich zu erleben, gibt es ein ganz einfaches Rezept: Nach einem (für deutsche Verhältnisse bescheidenen Frühstück aus Café und Croissant) geht es los und zwar einfach der Nase nach. So simpel es klingt, so effektiv ist es.
Vor allem, wenn die Sonne durch die Bäume blinzelt, lässt sich Paris wunderbar zu Fuß entdecken. Etwas abseits des Zentrums befindet sich das kleine, typisch französische Viertel Montmarte. Hier ist es plötzlich ganz einfach, das mit der Romantik und dem Flair.
In den Gässchen von Montmartre geht es vorbei an Bistros und kleinen Gemüseläden. Plötzlich steht man vor dem Café des deux Moulins, in dem im Film nicht nur Amélie kellnert, sondern auch noch direkt am Moulin Rouge steht. In Montmartre lohnt es sich, in der nächsten Boulangerie eine Stange Baguette zu kaufen, einen Laden mit Käse und Wein zu finden und sich langsam zu Sacre Coeur vorzuarbeiten.
Auf der Wiese vor der Kirche lässt es sich entspannen und der Musik lauschen, den Ausblick vom Stadthügel genießen, durchschnaufen. Jetzt sind alle Listen und das Abhaken Nebensache. Auf dem Hügel vor dem Inbegriff der französischen Romantik, der schneeweißen Kirche Sacre Coeur, lässt es sich aushalten.
Französische Leichtigkeit bei Wein und Käse
Am Wein nippen und Käse schlemmen, dann ist all der Stress vergessen. All die Hektik, das Schlangestehen, das Abhaken und Sehenwollen. Hier ist es plötzlich da, das Parisgefühl, die Romantik und die Leichtigkeit. Wenn all die restlichen To-Dos der Liste in Vergessenheit geraten sind, lässt sich Paris wirklich genießen.
Und wer dann wieder im Zentrum ist, dem erscheint all der Dreck, die Hektik, der Krach auf einmal gar nicht mehr so schlimm. Man sieht die kleinen Details, die wunderschönen Metroeingänge, die Musiker an den Straßen. Ein süßes Café hier, eine nette Boutique da und weiß, man hat nicht mehr das Paris-Syndrom sondern den Paris-Virus. Und der soll noch viel hartnäckiger sein.
Doch wer jetzt ganz romantisch mit seinem Liebsten ein Schloss an der Pont des Arts anbringen will, um die Liebe in Paris zu feiern, der wird enttäuscht: Die Schlösser wurden alle entfernt und das Anbringen ist untersagt. 2014 brach ein Teil des Geländers unter der Last der Liebesschlösser zusammen.
Übrigens: De Japaner haben ein gutes Mittel gefunden, um ihre Landsleute vor dem Paris-Syndrom zu schützen. Der Ex-Banker Yoshikazu Sekigushi gründete 2006 in Paris die „green birds“. Diese nehmen das Müllproblem selbst in die Hand und sorgen mit Besen und Lappen dafür, dass Paris ein bisschen schöner wird.
5 Tipps, um Paris zu lieben
- Nicht zu viel auf die To-Do-Liste packen: Wer seine Liste kurzhält, der erspart sich Stress und schlechte Laune. Lieber noch einmal nach Paris kommen.
- Aufs Wetter reagieren: Bei strömendem Regen eine Bootsfahrt auf der Seine? Bei strahlendem Sonnenschein stundenlang im Louvre aufhalten? Wer seine Tätigkeiten dem Wetter anpasst, holt das Beste aus seinem Besuch heraus.
- Mehr zu Fuß laufen: Wer mehr zu Fuß unterwegs ist, der sieht nicht nur mehr von der Stadt und kann das Flair erleben, man spart sich auch volle U-Bahnen und stressigen Feierabendverkehr.
- Rosarote Brille absetzen: Wer zu hohe Erwartungen hat, wird enttäuscht. Stattdessen: bewusst auf Schönes konzentrieren, Neues entdecken und mit offenen Augen die Stadt entdecken
- Im Notfall hilft Süßes. Wenn etwas nicht so läuft, wie man es sich vorstellt, dann hilft in sehr vielen Fällen etwas Süßes. Macarons, Schokolade und Tartelettes: Naschereien haben in Paris noch niemanden enttäuscht, garantiert.
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