Nein, das soll keine Schelte von Barcelona werden. Auch wenn einem die hippe und gehypte Millionenstadt manchmal schon auf die Nerven gehen kann, so überfüllt, wie sie sich meist präsentiert.
Und es soll auch keine Kritik an der Costa Brava oder Costa Dorada werden. Auch wenn viele Bettenburgen dort ein optisches Verbrechen sind und man sich am Strand liegend besser nicht umdreht.
Katalonien – eine stark unterschätzte Region
Hier geht es eher um die Frage: Warum denken Reisende bei dem 260 auf 240 Kilometer großen Katalonien fast ausschließlich an Barcelona und die 580 Kilometer lange Küstenlinie – und nicht an Siurana, Ripoll, Besalú oder Santa Pau? Weshalb fristet das wunderbare Hinterland zwischen Pyrenäen und Meer außer bei Spaniern und wenigen Franzosen ein solch touristisches Schattendasein? Es wird Zeit, eine der in der öffentlichen Wahrnehmung meist unterschätztesten Regionen einmal näher vorzustellen.
Sich von der Küste aus Richtung Hinterland aufzumachen, ist wie eine Befreiung. Nach und nach weicht die Enge der zwischen Hügeln und Meer eingeklemmten Küstenstädte und -regionen – mit 7,5 Millionen Einwohner ist Katalonien dreimal so dicht besiedelt wie der Rest Spaniens – einem Gefühl von Freiheit. Immer schönere Panoramablicke auf den Vorhof der Pyrenäen inklusive.
Dabei bedeutet eine Fahrt ins Landesinnere nicht zwingend, stundenlang über schmale, kurvenreiche und mittelmäßige Landsträßchen zu holpern, wie das Reisende beispielsweise aus manchen Ecken der Toskana und Provence gewohnt sind. So erreicht der Barcelona-Tourist auf einer top ausgebauten, zweispurigen Straße schon in einer knappen Stunde die sehenswerte Stadt Vic. Auf diese Art kommen selbst Reisemobile sehr zügig in die katalanische Pampa.
Markt in Vic: Köstlichkeiten von Äckern und Wäldern
In Vic erwartet den neugierigen Urlauber, der mal etwas mehr als Strand und Großstadt sehen will, immer samstags ein spannender Markt. Auf dem kompletten Plaça Major im Zentrum gibt es kaum mehr eine freie Stelle. Die ganze Stadt, ja fast die ganze Region scheint auf den Beinen zu sein, um sich mit all den Köstlichkeiten einzudecken, die heimische Äcker und Wälder zu bieten haben.
Angesichts der niedrigen Preise für Gemüse und Oliven denkt manch Deutscher spontan bestimmt an Hamsterkäufe. Dazu kommt im Spätsommer und Herbst eine riesige Auswahl frischer Pilze, die von den Sammlern mit unübersehbarem Stolz angeboten werden. Selbst wer lebendiges Federvieh mitnehmen will, wird hier fündig.
Die katalanische Fahne ist allgegenwärtig
Das bunte Treiben geschieht natürlich unter der gelb-rot gestreiften katalanischen Flagge. In verschiedenen Varianten oder mit den Wappen der 4 Provinzen Girona, Barcelona, Tarragona und Lleida versehen, hängt diese überall in Katalonien. An den öffentlichen Plätzen genauso wie an Fenstern von Privathäusern, Balkonen, Zäunen oder Fahnenmasten im Garten.
Dazu kaum eine größere Betonwand, auf die nicht das Zeichen der angestrebten Unabhängigkeit gepinselt wurde. Katalonien, die wirtschaftsstärkste Region Spaniens, will aufgrund historischer und kultureller Einflüsse nicht mehr nur eine von 17 autonomen Gemeinschaften Spaniens sein. Catalunya will zum eigenen Nationalstaat werden. „Das ist Katalonien und nicht Spanien“, sagen deshalb die Einheimischen unverblümt.
Der Urlauber merkt das nicht nur an den Fahnen, sondern auch an der Sprache. Spätestens, wenn er eine Speisekarte liest und feststellt, dass ein gesuchtes Wort gar nicht im deutsch-spanischen Wörterbuch steht.
Außer in Katalonien wird Català noch im größten Teil der Region Valencia und auf den Balearen sowie in Andorra, in der Stadt Alghero auf Sardinien sowie im Départment Pyrénés Orientales in Frankreich gesprochen. Insgesamt von 11 Millionen Menschen in Europa. Unter Diktator Franco war das bis Anfang der 1960er Jahre über zwei Jahrzehnte lang komplett verboten. Ein Grund mehr für die stolzen Katalanen, es mit Hingabe zu tun.
Als Reisender muss man deshalb nicht sein Schul-Spanisch verstecken. Aber schon ein kleines „Adéu“ zur Verabschiedung statt „Adios“ zaubert ein Lächeln auf das Gesicht der Kellnerin oder Kiosk-Verkäuferin.
Wer ins Hinterland fährt, muss keine Angst haben, dass ihn niemand mehr versteht. Klar, hier gibt es keine deutschsprachige Campingplatz-Rezeption wie an der Küste oder englischsprachige Speisekarten wie in Barcelona. Dafür jede Menge herzlicher und offener Menschen, die mit ihrem Charme zur Behebung jeder Sprachbarriere beitragen. Ein wenig katalanisch-spanisch-deutsch-englischer Kauderwelsch, ein Lächeln und hilfreiche Gesten bringen garantiert das richtige Ergebnis.
Neben zauberhaften Dörfchen und der wunderbaren grünen Hügellandschaft bleibt diese Freundlichkeit am eindrucksvollsten in Erinnerung. Hautnah zu erleben in Tante-Emma-Läden, die gerade so groß sind, dass 8 Menschen hineinpassen. Oder den Mini-Bäckereien mit ihren süßen Versuchungen und den uralten Brotschneidemaschinen. Oder beim Metzger, der gleichzeitig Tante-Emma-Laden ist. Oder beim Blumenhändler, der Drogerieartikel verkauft.
Hier ist Tante Emma noch am Leben
Es gibt alle denkbaren Konstellation mit immer demselben Ergebnis: Selbst im kleinsten Ort ist die Grundversorgung mit regionalen Lebensmitteln gewährleistet. Dass jedes Dorf dazu noch mindestens eine Bar und ein Restaurant zu bieten hat, versteht sich von selbst. Nicht nur in diesem Punkt scheint die Zeit hier stehengeblieben zu sein.
Bei der Auswahl seiner Haltepunkte kann der Reisende also nicht viel falsch machen. Wie zum Beispiel, wenn er von Vic weiter in die hübsche Kleinstadt Ripoll weiterfährt. Verwinkelt, am Fluss gelegen, mit vielen Museen, interessanten Bauten und aufmerksamen Tourist-Info-Mitarbeitern, die einen mit Anregungen für mehrere Wochen Urlaub füttern und jede noch so abwegig scheinende Frage mit Geduld beantworten.
Es ist zu spüren, dass sich hier eine ganze Region mächtig ins Zeug legt. Die Spanier selbst wissen das, schätzen die Schönheit der Gegend schon lange und verbringen ihre freie Zeit in Scharen im Hinterland.
An den Wochenenden tobt das Leben
Vor allem an den Wochenenden geht es rund. Selbst in Orten, die unter der Woche verlassen vor sich hinschlummern, tobt sonntags das bunte Leben.
Alles ist auf den Beinen. Riesige Picknick-Gesellschaften belagern die Parks, Großfamilien treffen sich zum Essen und stundenlangem Plausch in den Restaurants.
Überall riecht es nach Grillgerichten und der Knoblauch-Majonaise Allioli, nach Fisch, Meeresfrüchten und Arroz Negro, dem schwarzen Reis mit Tintenfisch. Was nie fehlen darf: Das geröstete und mit Knoblauch eingeriebene Tomatenbrot (Pa amb tomàquet) sowie natürlich die berühmten Fingerhäppchen Tapas und Pinchos sowie zarte Scheiben Schinken und köstliche Oliven.
Katalonien – perfekte Gegend für Outdoor-Aktivitäten
Während die einen noch schlemmen, sitzen die anderen schon lang wieder auf ihren Rennrädern, Mountainbikes, Pferden, Motocross-Maschinen oder gehen einfach nur wandern. Das nicht so dicht besiedelte Hinterland bietet beste Bedingungen für verschiedenste Outdoor-Aktivitäten. Manchmal müssen sich Kutsch-, Motorradfahrer und Biker die ausgewaschenen Feldwege teilen. Mit gemeinsamer Rücksichtnahme klappt das in der Regel.
Für Wanderer gibt es unzählige Möglichkeiten von gemütlich und kurz bis richtig schwierig und lang. Die Wege vorbei an herrlichen Steinhäusern sind durchgehend gut ausgeschildert, sodass man sich fürs Verlaufen schon anstrengen müsste. Auf der Via Romana bei Sant Pau de Seguries lässt sich die Bewegung in der Natur sogar mit aktivem Geschichtsunterricht verbinden. Denn der steinige Weg zeigt sich noch genau so, wie ihn die Römer damals angelegt haben.
Es riecht nach Mittelalter
Die bewegte Vergangenheit des lange umkämpften Kataloniens kann man in vielen Orten der Provinz Girona förmlich greifen. Egal ob an der Abtei von St. Joan de les Abadesses, der Brücke Colonia Estabanell in Camprodon, der filmreifen Kulisse des denkmalgeschützten Dorfs Besalú mit der Pont Vell, die sich am Ortseingang über den Fluss Fluvià spannt oder in Santa Pau mit seiner Stadtmauer, den Türmen, Häusern, Plätzen und Gassen aus dem 14. Jahrhundert: Überall riecht es geradezu nach Mittelalter.
Fortschrittlich und zugleich sehr den Traditionen verbunden, heimatverliebt und trotzdem aufgeschlossen, dazu sehr sportlich und naturnah: So präsentieren sich Einwohner und Region den Besuchern. Von denen es sehr viele in einen ganz besonderen Naturschutzpark zieht. Im „Parc Natural de la Zona Volcànica de la Garrotxa“ können sie mehr als 40 inaktive Vulkane bestaunen.
Begrünte Vulkankegel im Naturschutzpark
Die Stadt Olot liegt im Zentrum der 20 verschiedenen Naturschutzgebiete, die sich auf 120 Quadratkilometern erstrecken. Da der letzte Ausbruch rund 10.000 Jahre zurück liegt, hat sich die Natur das meiste vom Vulkangestein wieder zurückerobert. Die begrünten Vulkankegel bieten eine sehenswerte Kulisse für die Heerscharen von Wanderern, die hier täglich losziehen.
Die Parkplätze vor den Vulkanen Santa Margarida und Croscat mit seinem beeindruckenden Schlund, in den man hineinlaufen kann, füllen sich schon morgens mit Bussen voller Schulkinder und Touristengruppen. Auf den vorbildlich ausgeschilderten Wegen lassen sich kleine Wanderungen mit Kindern genauso wie ausgedehnte Tagestouren unternehmen.
Von Massentourismus kann man aber selbst in der gut besuchten Vulkangegend nicht reden. Das einzige Ausflugsziel jenseits von Barcelona und der Küste, das diesem Etikett gerecht wird, ist das 1236 Meter hoch gelegene Bergdorf Montserrat mit seinem weltberühmten Benediktinerkloster. Rund zwei Millionen Besucher jährlich wollen die monumentale Anlage, die großartige Aussicht und die schwarze Madonna sehen.
Die Schutzpatronin Kataloniens thront als Figur aus dem 12. Jahrhundert über dem Hochaltar in der Basilika des Klosters. 50 Chorknaben der Internatsschule des Klosters stimmen ihr zu Ehren täglich um 12 Uhr kirchliche Gesänge an. Da Montserrat nur rund 40 Kilometer von Barcelona entfernt liegt, nutzen viele Touristen die Möglichkeit für einen Tagesausflug.
Großartiger Schaumwein, traumhafte Aussichten in Katalonien
Im Hinterland der weiter südlich gelegenen Provinz Tarragona wird es schon wieder deutlich ruhiger. Dabei hat auch diese Ecke einiges zu bieten. Zum Beispiel großartigen Wein, als eines der größten Weinanbaugebiete in Katalonien. Nicht zu vergessen der Schaumwein Cava, der wie Champagner per Flaschengärung hergestellt wird.
Oder das 217 Meter lange und 27 Meter hohe Aquädukt Pont de les Ferrenes, das seit 1905 unter Denkmalschutz steht und 2000 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Oder das Ebrodelta, mit einer Fläche von 80 km² das größte Reisanbaugebiet Spaniens.
Das alles verblasst aber im Glanz eines Dorfes: Siurana. Da thront dieses hinreißende Bergdörfchen auf einem mächtigen Kalksteinfelsen in über 700 Meter Höhe und bietet ein großartiges Panorama auf das Tal mit dem Flüsschen Siurana, den Stausee und die bei den Kletterern so beliebten Felswände rundherum.
Der fantastische Blick in schwindelnder Höhe belohnt für die kurvenreiche Anfahrt. Alles wird hier vom Fels bestimmt. Selbst das kleine Restaurant ist in den Stein hineingebaut worden. Kein Wunder, dass die vielen Kletterer und Tagesausflügler Siurana lieben. Allein dieser Ort am Abgrund ist einen Besuch des katalanischen Hinterlandes wert.
Und wenn dann an einem der vielen Sonnentage wie so oft ein Heißluftballon am strahlend blauen Himmel auftaucht und zusammen mit den Bergen das perfekte Fotomotiv abgibt, ist klar: Katalonien kann viel mehr als Barcelona und Costa Brava.
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Titelbild: © Depositphotos.com/Juan Moyano
Restliche Fotos: Mischa Miltenberger